Eisenkinder
Den Brief der Behörden, der ihr Studium beendete, hat sie 1987 verbrannt. Sie hatte niemandem von der Drohung erzählt und den einzigen Beweis vernichtet. Sie fühlte sich danach nirgendwo mehr sicher und zog sich in ihr Refugium zu Hause zurück. Wenn ich meiner Mutter damals Unternehmungen außerhalb des Dorfes vorschlug, brachte sie eine Liste von Hindernissen vor, zu weit weg, zu teuer, zu gefährlich. Sie interessierte sich für Politik, für Literatur, sie verpasste keine politische Sendung im Fernsehen, aber sie setzte keinen Fuß vor die Tür.
Das war vielleicht das Schwierigste am Aufwachsen in der Wendezeit: zu sehen, wie hilflos und gekränkt die Eltern waren. Wie soll man einen Platz in der Welt finden, wenn diejenigen, die einem dabei helfen sollen, selbst verloren waren?
Nicht allen ging es so wie mir, aber viele Väter und Mütter verloren damals ihre Arbeit. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wurden in den Jahren 1990 und 1991 rund 2,5 Millionen Ostdeutsche arbeitslos. Zu keinem anderen Zeitpunkt in der deutschen Nachkriegsgeschichte verloren so viele Menschen in so kurzer Zeit ihren Arbeitsplatz.
Eine halbe Million Menschen verließ allein in den ersten zwei Jahren nach der Wende ihre Heimat, um anderswo Arbeit zu finden. Bis 2012 kamen aus Ostdeutschland mehr als 1,5 Millionen Wirtschaftsflüchtlinge in den Westen. Wer nach 1990 nicht wegzog, um woanders zu arbeiten, hangelte sich oft mit Mini-Jobs oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durch. Depressionen und psychische Krankheiten breiteten sich aus. Besonders Männer, die ihr Selbstwertgefühl stärker aus ihrer Karriere, ihrem Marktwert ziehen, litten unter der Arbeitslosigkeit.
Damals war die Zeit, in der ich es nur schwer zu Hause aushielt. Ich fieberte dem Sonntagabend entgegen, wenn ich zurück nach Eisenhüttenstadt konnte. Im Zug traf ich meine Mitschülerinnen. Jede hatte ihre eigene Geschichte. Inas Familie sollte ihr Haus aufgeben, weil die alten West-Eigentümer zurückgekommen waren. Claudias Eltern wurden arbeitslos. Der Einzige, der begriffen hatte, wie die neue Zeit funktionierte, war Nancys Vater. Er wollte das größte Fahrrad der Welt bauen und damit ins Guinness-Buch der Rekorde kommen.
Die Kunst besteht im Warten
Auf dem Rummelplatz war ich mal in einem Raum voller Spiegel. Ich ging hinein, erst forsch, dann vorsichtiger. Die Menschen, die mir in den Spiegeln begegneten, sahen verzerrt aus wie Monster, mit riesigen Köpfen und kleinen kurzen Beinen. Man hätte kleine Kinder damit erschrecken können. Ich ging weiter und stand kopf. Als wäre die Schwerkraft ins Gegenteil verkehrt. Der nächste Spiegel verschluckte Arme, Beine und Rumpf. Mein Kopf schwebte im Nichts, wie ein Geist aus dem Märchen, ein Aladin, aber ohne magische Kräfte.
Ich erinnere mich, dass ich Schwierigkeiten hatte, den Weg zurück ins Freie zu finden.
Wenn ich an die erste Zeit nach dem Mauerfall zurückdenke, fällt mir das Spiegelkabinett ein. Ich hatte die Orientierung verloren. Ich setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und lachte zu laut, wenn ich gegen eine Spiegelwand lief. Im Rückblick erscheint es mir, ich hätte sehen können, wie verloren ich war, wie unsicher ich durch die Gegend lief. Ich würde mich irgendwann an ein Bild klammern, das mir Halt versprach.
Ich beobachtete die Lehrer, wie sie sich bewegten. Wie langsam sie über die Gänge schlichen. Der Cowboy, den Conny aus dem Raum getrieben hatte, war wieder da. Der weinende Staatsbürgerkundelehrer.
Es war, als hätte er das Genre gewechselt und sei jetzt Held in einem Science-Fiction-Film, in dem Pillen verteilt werden, die die Vergangenheit vergessen lassen. Er war in ein neues Westler-Kostüm geschlüpft, feine Hemden, farbige Hosen, große Armbanduhr.
Ich sah ihm zu, wie er neue Merksätze von Ludwig Erhard an die Tafel schrieb.
»Die Sozialleistungen in der DDR waren gemessen an der Produktivität viel zu hoch.«
»Arbeitslose sind völlig normal.«
Herr Weinlein war der neue Gesellschaftskundelehrer. Er wiederholte die neuen Phrasen mit der gleichen Überzeugung wie die alten. Aus »Frieden und Sozialismus« wurde »Demokratie und Toleranz«. Beides klang gleich hohl und leblos. Ich fand alte Aufzeichnungen: Im März 1989 verteidige ich den Mauerbau als antifaschistischen Schutzwall. Ein Jahr später ist der Mauerbau ein Akt der Unmenschlichkeit. Ich kam bei dem Tempo nicht mehr mit.
Es stieß mich ab, wie leicht Weinlein von
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