Eisenkinder
einem System ins nächste glitt, gleichzeitig war ich merkwürdig fasziniert. Ich stand vor den verzerrten Bildern und konnte nicht wegsehen. Die Macht des Spiegelkabinetts.
Der Staatsbürgerkundelehrer verschwand im Frühjahr 1990. Er kam von einem Tag zum anderen nicht mehr in die Schule. Natürlich gab es sofort die abenteuerlichsten Gerüchte. Es hieß, dass er vor einer Stasi-Überprüfung geflohen war. Er arbeitete angeblich als Versicherungsvertreter. Sein neuer Chef sei ein ehemaliger Stasi-Hauptmann. Aber das waren nur Gerüchte. Weinlein blieb verschwunden, der alte Deutschlehrer übernahm.
Es ist zwanzig Jahre später nicht genau zu klären, was damals wirklich passierte. Mir leuchtet folgende Erklärung am meisten ein: Herr Weinlein hatte die neuen Meinungen zu schnell übernommen. Es wurde eine Schulkonferenz einberufen. Weinlein musste sich rechtfertigen. Die, die dabei gewesen sind, sprechen von einem »Tribunal«. Das schlimmste Verbrechen in Eisenhüttenstadt im Frühjahr 1990 war es, sich zu schnell anzupassen. Wendehälse nannte man solche Leute. Es reichte damals zu wissen, was man nicht sein wollte: kein Wendehals, kein Stasi-Hauptmann, kein Arbeitsloser.
Ich beobachtete die Veränderungen an unseren Lehrern. Die Russischlehrerin, die das gleiche Engagement, das sie früher in den Unterricht gesteckt hatte, jetzt in eine New-Age-Bewegung steckte, Herr Weise, der sich mehr und mehr zurückzog und zur aktuellen Lage uns Schülern gegenüber nie Stellung bezog, Frau Wilke, die sich nicht mehr traute, im Unterricht hart durchzugreifen.
Im Lehrerzimmer schienen sie damals die Direktoren zu klonen. Dauernd kamen neue heraus. Man verlor schnell den Überblick. Frau Koschke, die Direktorin, vor der alle Angst hatten, ging, und eine Frau, die ihr aufs Haar glich, übernahm als neue Direktorin. Die neue Frau Koschke trug dieselben Röcke, dieselbe Frisur und dieselben Ansichten im Kopf wie die alte Frau Koschke. Die neue Frau Koschke hieß Frau Heinrich und war die ehemalige Parteisekretärin. Den Mauerfall erlebte sie, als sie auf einer Parteischulung war. Parteisekretäre, die anderswo entlassen wurden, bekamen bei uns eine Beförderung. Die DDR wurde gerade zusammengefaltet, bei uns wurde sie wieder ausgepackt. Wie das passieren konnte, kann heute auch niemand mehr so richtig erklären. Vielleicht wurde sie dazu gezwungen, weil niemand anders den undankbaren Job machen wollte. »Es war Anarchie«, sagt mein damaliger Geschichtslehrer, Herr Weise, viele Jahre später.
Am 3. Oktober 1990, dem Tag der deutschen Einheit, schrieb ich in mein Tagebuch:
Meine lieben Landsleute, sagt Kohl. Er ist nicht mein lieber Landsmann!! Mein Land gibt es nicht mehr. Und ich kann nichts dagegen tun. Ich weiß, dass wir keinen richtigen Sozialismus hatten, aber wir hätten es probieren können. Aber wir sind ja nur die doofen Ossis! Dieser heutige Tag bedeutet mir nichts!
Ich verstehe nicht, warum ich so wütend war. Nicht alle waren wütend, aber viele waren enttäuscht. Es gab eine Zeit lang die Träume der bärtigen Bürgerrechtler, eine andere DDR aufzubauen. Es war nur ein schöner Traum. Heute mögen das einige bestreiten, aber ich weiß, dass ich damals niemanden kannte, der sich über die Wiedervereinigung freute.
Als ich später im Ausland gefragt wurde, wie ich den Nationalfeiertag feiere, antwortete ich, dass ich niemanden kenne, der den 3. Oktober feiert.
Es ist nur ein freier Tag, an dem man sich ausruhen, mit dem Neffen Fußball spielen, in eine Ausstellung gehen, eine ganze Serienstaffel auf DVD gucken kann.
Doch, einmal wurde ich auf eine Einheitsfeier eingeladen. Es war eine Party, die die deutsche Botschaft in London organisierte. Ich erinnere mich an die Villa im feinen Belgravia, ein roter Teppich, der über der Treppe lag, ein Raum voller Nadelstreifenanzüge, die Männer waren Chefs deutscher Sparkassenbüros in London, zogen sich jetzt aber so an wie englische Banker. Ich sah den Westlern zu, wie sie die Einheit feierten. Sie feierten sich selbst. Der Botschafter, ein jovialer, aufgeräumter Schwabe, tänzelte über den dicken Teppich. Die philippinischen Hausdiener in Livree servierten den Herren frisch gezapftes deutsches Bier und Buletten. Marius Müller-Westernhagen stand in der Ecke und aß ein Würstchen.
Vielleicht gab es keine prominenten erfolgreichen Ostdeutschen in London. Dann fiel mir Michael Ballack ein, Neuzugang beim FC Chelsea, ich hoffte fast, er würde kommen, obwohl ich
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