Eisenkinder
Chelsea nicht mochte und obwohl Ballack auf mich den Eindruck machte, dass er eigentlich kein Ostler mehr sein wollte, sondern Münchner, aber er kam trotzdem aus Karl-Marx-Stadt. Michael Ballack kam nicht, nur der Torwart Jens Lehmann mit seiner Frau. Ich blieb die einzige Ostdeutsche. In der BBC sollte ich erzählen, wie ich die Wende erlebte, damals. Sie wollten unbedingt hören, wie toll es gewesen war, auf der Mauer zu tanzen und plötzlich in Freiheit zu leben. Es war schwer zu vermitteln, dass ich nicht auf der Mauer getanzt habe. Dass die Wende viel länger dauerte als eine Nacht im November ’89.
Nach und nach verschwand der alte Staat, aber der neue war noch nicht entstanden. Kombinate wurden aufgelöst. Straßenschilder abmontiert, Gebäude geleert. Nach ein paar Jahren sah man überall frisch geteerte Straßen, pink und gelb gestrichene Plattenbauten.
Überall wurden Schulen geschlossen, zusammengelegt und umbenannt. Zwanzig Jahre später sollten sie wieder geschlossen, zusammengelegt und umbenannt werden. Erst dann würde man die Schulen, in denen die Kinder so lange wie möglich zusammen lernten, wieder schätzen. Aber sie durften nie wieder polytechnische Oberschulen genannt werden. Sie mussten Gemeinschaftsschulen heißen. Gemeinschaft, dagegen konnte niemand etwas haben.
Ich registrierte das alles wie in Trance. Alles, was bisher richtig war, galt nicht mehr. Wir hatten, und das wurde mir erst langsam klar, das falsche Leben gelebt, nicht nur meine Eltern, auch ich, mit meinem stillen Ehrgeiz, meinen großen Plänen.
Wir zogen in ein neues Schulgebäude, es schien größer, ich irrte durch die Flure, fand die Klassenräume nicht mehr. Neue Schülerinnen und Schüler kamen in unsere Klasse, ohne dass sie eine Aufnahmeprüfung bestehen mussten. Wir sollten ein Gymnasium werden, aber ich konnte mich nicht darüber freuen, denn die Talente-Klasse wurde abgewickelt. So wie die Kombinate, die Kinderkrippen, die Polikliniken. Wir, die Internatsschüler, waren ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit.
Das Talente-Förder-System der DDR galt auf einmal als unmoderner Drill, Leistungsdenken war verpönt.
Ich erinnere mich an den Satz meiner Klassenlehrerin, der wahrscheinlich beruhigend klingen sollte. Ihr werdet trotzdem euer Abitur machen können, versicherte sie uns Zehntklässlern. Leider sei noch nicht klar, ob das Abitur auch im Westen anerkannt würde.
Ich fühlte mich gekränkt, ich nahm das alles persönlich. Als ich in der Schule aufgenommen wurde, war mir Sicherheit versprochen worden.
Niemand brauchte jetzt mehr die Talente der DDR . Es wirkte so, als seien wir gerade noch gut genug, um einen Traktor über die Felder zu fahren. Wie die meisten Menschen war ich davon ausgegangen, dass das Leben eine gute Zukunft für mich plante. Die DDR war nicht perfekt, aber man musste sich nicht um Arbeit, Wohnung und das Gesundheitssystem sorgen. Ich war davon ausgegangen, dass ich studieren und einen guten Arbeitsplatz finden werde. Jetzt war ich mir nicht mehr so gewiss. Dazu kamen ganz praktische Probleme, die sich zu unvorhergesehenen Hürden entwickelten: Zu DDR -Zeiten war das Internat kostenlos, nun musste man jeden Monat rund 85 D-Mark für die Unterkunft überweisen. Dazu kamen Fahrgeld und Essensgeld. Wie sollte ich das bezahlen?
Das neue Punkte- und Kurssystem war kompliziert. Ich habe es bis heute nicht verstanden. Die Lehrer schrieben kaum noch Kontrollen, weil es zu viel Arbeit machte. Sie wurden angehalten, keine schlechten Noten zu vergeben. Sie kamen mit einem Stapel Kopien unter dem Arm in den Raum, Schulbücher gab es lange Zeit nicht, weil die westdeutschen Verlage mit dem Drucken nicht hinterher kamen. Es durften nicht einmal mehr die Mathebücher des unterlegenen Systems verwendet werden. Die Lehrer standen vorn an der Tafel und zogen ihren Unterricht durch. Sie waren von den Umwälzungen so überrascht wie wir.
Sie schauten uns an, aber sie sahen uns nicht. Sie waren sich ihrer neuen Rolle nicht sicher. Früher durften sie Schüler, die den Unterricht störten, verwarnen, jetzt musste man vorsichtiger sein. Es gab die Parole von oben, möglichst alle Schüler mitzuziehen, Auffälligkeiten zu übersehen.
Strafarbeiten und Nachsitzen galten auf einmal als verpönt, als »Stasi-Methoden«. »Alle Staatsbediensteten der DDR wurden mit der Stasi gleichgesetzt, wir wurden degradiert. Der Ansehensverlust reicht bis heute«, klagt eine pensionierte Lehrerin, die ihren Namen nicht
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