Eisenkinder
nennen will.
Die Lehrer liefen durch die Gänge, als läge eine schwere Last auf ihren Schultern, über die sie mit niemandem reden können. Sie mussten um ihre Stellen fürchten, sie hatten sich beim Schulamt neu beworben, mit Anschreiben und Lebenslauf. Manche waren überfordert, andere traurig oder wütend.
Später treffe ich meine ehemalige Englischlehrerin, Frau Mai, die damals mit uns Pet Shop Boys gehört hat. Nach der Wende wirkte sie manchmal überfordert. 1992 kamen zwei Neue in unsere Klasse, die ein Austauschjahr in den USA verbracht hatten. Ihr Englisch war viel besser als das der Lehrerin. Ich erinnere, wie sie hinten in der Bank saßen, Grimassen schnitten und sich über die Aussprache von Frau Mai lustig machten. Wenn sie etwas davon mitbekam, ließ sie es sich nicht anmerken.
Zwanzig Jahre sind vergangen, aber sie hat sich äußerlich kaum verändert. Derselbe dynamische Schritt, dieselbe direkte Art, diesselbe helle Stimme. Sie erinnert sich so:
»Einmal haben wir eine Schulung von Lehrern aus Nordrhein-Westfalen bekommen. Ich fand es schrecklich, dass wir kritiklos alles übernehmen mussten. Später habe ich in einem Gymnasium in Berlin-Steglitz im Englischunterricht hospitiert. Es gab kein Klingeln zu Stundenbeginn, das war schon mal komisch. Ein Schüler stand mitten im Unterricht auf, ein anderer biss in ein Brötchen, der Nächste trank aus einer Flasche Cola. Das war alles erlaubt. Es gab eine klare Aufteilung: Die, die arbeiten wollen, saßen vorn, die anderen hinten. Das waren wir nicht gewöhnt, dass auf Störungen nicht eingegangen wird. Ein anderer West-Lehrer riet mir: die Kunst besteht im Warten. Ich dachte, wenn das bei uns so wird, dann höre ich auf.«
Sie hat dann doch nicht aufgehört, sondern hat angefangen Latein als neues zweites Fach zu studieren, weil nur noch wenige Russisch lernen wollten.
Ich habe damals von den inneren Kämpfen der Lehrer nichts mitbekommen. Ich hatte alle möglichen Gefühle: Angst, Gleichgültigkeit, Enttäuschung, aber das zeigte ich nicht. Man wurde eher in Ruhe gelassen, wenn man seine Pflicht erfüllte, da hatte sich nichts geändert. Da waren wir ganz pragmatisch.
Meine Russischlehrerin aß nur noch Rohkost. Sie futterte sich durch das neue westliche Warenangebot, Bananen, Orangen, Papayas und Kiwis und selbst Erdbeeren konnte man im Winter kaufen, obwohl die Ersten schon vor dem Ozonloch warnten.
Sie erinnerte mich an eine Figur aus dem Struwwelpeter -Buch, den Mäkelfritzen, der nur noch Stachelbeeren aß, bis ihm die Nadeln aus der Haut wachsen.
In das Leben meiner Russischlehrerin war ein neuer Mann getreten. Er hieß Harvey Diamond und hatte ein Diätkonzept namens Fit for Life entwickelt. Er lehnte Medikamente als Gift für den Körper ab und lehrte, dass der menschliche Körper sich selbst heilen kann. Er empfahl, rohes Obst und Gemüse statt Fleisch zu essen. Seine Bücher verkauften sich in rund 14 Millionen Exemplaren und wurden in 33 Sprachen übersetzt.
Harvey Diamond versorgte meine Russischlehrerin in seinen Büchern nicht nur mit Speiseplänen, sondern auch mit Lebensweisheiten. »Verändern Sie Ihr Leben!«, »Sie sind selbst für Ihr Leben verantwortlich!«, »Nehmen Sie Ihr Glück selbst in die Hand!«.
Die Lehrerin funktionierte unsere Russisch-Klasse zu Fit-for-Life -Seminaren um. Sie schwärmte, wie viel jünger und vitaler sie sich fühle. Ich habe ein Bild im Kopf, wie sie einmal Gymnastik-Übungen vormachte, in einem blauen Kleid machte sie den Hampelmann. Komischerweise fanden wir es überhaupt nicht seltsam, dass unsere Russischlehrerin den Hampelmann machte. Es passte ins Bild.
Harvey Diamond war ein amerikanischer Selbsthilfe-Guru, und es passte gut zum neuen System, wie er den Glauben an eine zweite Chance, ein Ur-Dogma des Kapitalismus, propagierte. Ich kann verstehen, wie anziehend das auf Menschen wie meine Lehrerin gewirkt haben muss, die nach neuen Werten suchten. Auch wenn die Regeln von Fit for Life nicht gerade überraschten: Dass Obst und regelmäßige Bewegung gesund waren, wusste jedes Kind.
Für meine Russischlehrerin war Fit for Life dennoch eine Offenbarung, ein Weg zur Selbstfindung.
Eisenhüttenstadt war eine Stadt, die nicht zum Sitzen in Cafés oder zum Flanieren gebaut worden war, sondern eine Stadt zum Marschieren. Es gab keine verwinkelten Gassen, keine romantischen Treppen, dafür gab es jede Menge Aufmarschplätze. Man marschierte an den Geburtstagen der Republik und um an den Sieg
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