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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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wir das Interesse an der Schule verloren.

Temple of Love
    Eines Tages wurden wir, meine Freundin und ich, von zwei jungen Männern angesprochen. Beide fielen in Eisenhüttenstadt sofort auf: Sie trugen graue Anzüge, weiße Hemden und Krawatten. In Eisenhüttenstadt trugen nur Versicherungsvertreter Krawatten. Aber sie waren keine Versicherungsvertreter. Sie stellten sich als Jim und Michael aus Amerika vor. Obwohl mich meine Mutter immer davor gewarnt hatte, mich von Fremden ansprechen zu lassen, blieb ich sofort stehen.
    Marlene und ich waren damals 16 oder 17 Jahre alt, und wir hatten bisher keinen einzigen Amerikaner kennengelernt. Wir kannten überhaupt keine Ausländer. Jim und Michael sahen nett aus und wirkten kaum älter als wir. Während wir unser Schulenglisch ausprobierten, warfen wir uns ungläubige Blicke zu. Wir fühlten uns wie Auserwählte.
    Jungs kennenzulernen war in Eisenhüttenstadt schwierig. Die vier in unserer Klasse waren aus verschiedenen Gründen indiskutabel. Wir schauten in der Pause zu den älteren Jungs aus der 12. Klasse rüber, aber für die waren wir uninteressant. Unsere Klasse hatte in der Schule einen Spitznamen: »die Hässlichen«. Das erfuhr ich erst Jahre später, ich fand es erst ein bisschen gemein. Aber dann schaue ich mir noch mal alte Fotos an und ich sehe die unbeweglichen Gesichter, mit denen wir in die Kamera gucken und ich verstehe, woher der Spitzname kam. Schlechte Frisuren hatten wir alle, auch die glücklichen, selbstbewussten Teenager, aber mich überrascht vor allem etwas anderes, wie verstört und verzweifelt wir damals aussahen.
    Die Unsicherheit der Zeit spiegelte sich auch in den Mienen und machte uns hässlich.
    Mein Liebesleben war bisher enttäuschend verlaufen. Meine Zimmergenossin ließ die Pille offen herumliegen, es schien mir wie eine Mahnung an meine eigene Rückständigkeit. Ich war schüchtern, ich las zu viele alte Bücher, die Vergangenheit erschien mir lebendiger als die Gegenwart. Ich machte Witze darüber, wie altmodisch ich sei.
    Nach Charles Dickens, den Brontë-Schwestern und Thomas Hardy war ich bei Guy de Maupassant hängengeblieben. Bei den Engländern endete die Geschichte meist mit einer Hochzeit. Bei den Franzosen fing die Geschichte damit an. Die Ehe, ein Fiasko. Ich hatte keine gute Meinung von der Liebe.
    Ich las mich durch die Bücherregale meiner Tante. Jedes Wochenende ging ich zu ihr und bediente mich, auch wenn sie längst aufgehört hatte, sich für alte Bücher zu interessieren. Ich verbrachte das Wochenende eingerollt auf einem alten Sessel mit einem Buch in der Hand. Nur zum Essen bewege ich mich heraus.
    Mein damaliges Lieblingsbuch, das ich dreimal gelesen habe, handelte von einer gewissen Jeanne. Jeanne ging auf eine Klosterschule, sie wurde mit dem erstbesten Grafen, der sie gut findet, verheiratet. Sie war sehr verliebt und merkte zu spät, dass er kein guter Mensch war.
    Die beste Stelle war, als sie mitbekommt, dass ihr Mann das Dienstmädchen geschwängert hat und dieses Kind bei ihr im Haus zur Welt kommt. Das war für Jeanne ein Schock. Aber sie drehte nicht durch, sie blieb ganz ruhig. Dabei ist sie erst 18. Das Buch ging darum, wie sie später im Leben zu sich selbst und innerer Freiheit findet.
    Das Buch war eigentlich nichts für 16-Jährige, und ich bin nicht sicher, ob ich wirklich alles verstand, aber ich kam mir sehr reif und erwachsen vor, als ich es las. Als ob ich von den großen Gefühlen wüsste, die die Menschen durch die Geschichte treiben.
    Auch Maupassants irres Leben faszinierte mich. Er nahm Drogen, schlief mit unzähligen Frauen und starb mit 43 an Syphilis. Ich musste im Lexikon nachschlagen, was Syphilis war und wurde rot, als ich die Stelle las.
    Ich weiß nicht, wie ich darauf komme, es hat mit den Amerikanern, die meine Freundin und ich auf der Straße trafen, nichts zu tun. Wir standen mit Jim und Michael zusammen und unterhielten uns. Nach einer Weile baten sie uns, ob sie mit ins Wohnheim kommen dürften. Wir nahmen sie mit.
    Michael und Jim wirkten sympathisch und höflich, viel höflicher als die Jungs, die wir kannten. Außerdem gab es sonst keinen Ort, an dem wir uns hätten hinsetzen können. Cafés gab es nicht und für die Kneipe waren wir zu jung. Niemand hielt uns im Lehrlingswohnheim auf, niemand fragte, was wir mit den Fremden in unseren Zimmern wollten.
    Wir betraten das Zimmer meiner Freundin, weil ihre Mitbewohnerin nicht da war. Die beiden Amerikaner setzten sich auf

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