Eisenkinder
der Arbeiterbewegung zu erinnern. Platz für Panzer gab es genug. Der Krieg hatte etwas sehr Aufgeräumtes. 1991 marschierten wir wieder. Wir lebten in einer merkwürdigen Zwischenwelt. Die Leninallee heißt jetzt zwar Lindenallee, aber die Feindbilder ließen sich nicht so schnell wie die Straßenschilder ändern.
Der Irak hatte Kuwait besetzt, und die USA schritten nun ein, um den Irak zu vertreiben. Die ganze Schule versammelte sich morgens in der Lindenallee. Es war fast wie früher beim Fahnenappell. Ich hasste diese Zwangsveranstaltungen und ich hatte insgeheim gehofft, dass damit nach der Wende Schluss sei. Ich fühlte mich nicht imstande, eine Meinung zur Lage in Kuwait zu haben, wenn ich nicht mal wusste, wo Kuwait lag.
Meine Hoffnung, dass die neue Freiheit darin bestand, dass man auch mal keine Meinung haben konnte, verflog.
Alle gingen. Ich sah meine Mitschüler, einige hatten Kerzen, Plakate und Transparente dabei. »Kein Blut für Öl« stand auf einem Plakat, »Nieder mit dem Imperialismus der USA « auf einem anderen. Ich glaube, sie demonstrierten mehr aus Gewohnheit, denn aus Überzeugung.
Ein Reporter der Lokalzeitung protokollierte anschließend, dass die Schüler des Gymnasiums Eisenhüttenstadt an die irakischen Machthaber appellierten, sich aus Kuwait zurückzuziehen. Die irakischen Machthaber ließen sich aber nicht beeindrucken. Zwei Tage später begann die Operation Desert Storm . Es war der erste Krieg, den ich im Fernsehen verfolgte.
Im Herbst 1991 bekam die Schule einen neuen Direktor, der dritte in zwei Jahren.
Aus heutiger Sicht stellt man sich gerne vor, dass nach der Wende sofort neue Leute in die Ämter kamen, unverbrauchte Gesichter, kleine Freiheitslehrer. Aber in Eisenhüttenstadt und vielen anderen ostdeutschen Städten gab es solche Leute nicht. Es wird oft vergessen, dass die DDR nicht mehrheitlich aus Bürgerrechtlern bestand, die nur darauf warteten, Gerichte, Polizei und Schulen aufzubauen.
In Eisenhüttenstadt gab es nicht einmal eine nennenswerte kirchliche Opposition, aus der man Personal hätte rekrutieren können. Westler trauten sich schon gar nicht in das Niemandsland an der polnischen Grenze. Einmal kam eine Referendarin aus dem Westen ans Gymnasium. Sie hielt es ein halbes Jahr aus.
Also nahm man die, die schon da waren. Das Schulamt leiteten 1991 zwei Blockflöten, einer von der CDU , einer von der NDPD , zwei Parteien, die in der DDR zwar erlaubt waren, aber nichts zu sagen hatten. Diejenigen, die mit der SED unter einer Decke steckten, waren dafür verantwortlich, die Schulen zu reformieren und den Nachwuchs zu Toleranz und Freiheit zu erziehen. Man darf annehmen, dass sie versuchten, ihre Arbeit anständig zu machen. Sie wählten Jörg Weise aus. Er war auch nicht gerade unbelastet, aber er war verlässlich. »Wir kennen uns schon seit vierzig Jahren, du machst uns keinen Ärger, du musst das machen«, sagten sie ihm.
Unter Weise wurde das Gymnasium umgebaut, man wirbt heute mit »Weltoffenheit, Tradition, Sprachkompetenz und naturwissenschaftlichem Profil«, wie es auf der Website heißt. 1996, als ich bereits in Hamburg lebte, kam sogar der damalige Bundespräsident Roman Herzog und weihte das »Albert-Schweitzer-Gymnasium« ein. Dass die Schule vor der Umbenennung zum Gymnasium 1991 eine EOS war, dass die Schule vor 1991 überhaupt existierte, das wird nicht erwähnt. Es ist, als ob die Vergangenheit nicht existierte. So viel zum Traditionsbewusstsein.
1992 endete eine Ära. Es gab keine Talente-Klasse mehr, also kamen auch keine neuen Internatsschüler hinzu. Das Internat wurde nicht mehr gebraucht. Ich gehörte zu den letzten, die übrig blieben, für uns wurden ein paar Zimmer im Lehrlingswohnheim frei geräumt. Ich mochte das Gebäude nicht. Ich vermied die Gemeinschaftsküche, die wir uns mit künftigen Fleischern und Krankenschwestern teilten. Sie hatten es richtig gemacht, Krankenschwestern und Fleischer würden immer gebraucht.
Das Gebäude war ein langer Schlauch mit glänzendem, stets frisch gebohnert aussehendem Linoleum, rechts lagen die Gemeinschaftsduschen, von dem langen Flur gingen viele kleine Türen und Nummern ab, eigentlich eher amerikanisch. Die Regeln von früher waren weg, die Verbote, aber auch das Gemeinschaftsgefühl. Jeder machte von nun an sein eigenes Ding. Ich sah meine alten Mitbewohnerinnen nur noch selten. Ich freundete mich mehr mit Marlene an, dem Mädchen, das Turbo Pascal programmieren konnte. Uns einte, dass
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