Eisenkinder
die Betten. Meine Freundin und ich nahmen auf den Stühlen Platz. Ich stellte Fragen. Ich wollte wissen, woher sie kamen und wie es sie ausgerechnet nach Eisenhüttenstadt verschlagen hatte. Sie beantworteten die Fragen zögernd, so als ob sie dauernd überlegten, was sie sagen dürften und was nicht.
Sie sagten, dass sie Mormonen seien und jeder Mormone die Pflicht habe, ein Jahr nach der Schule seiner Kirche als Missionar im Ausland zu dienen. Sie hatten ihre Schule kürzlich beendet und ihre Kirche hatte sie nach Germany geschickt. Es gebe da einen Ort an der polnischen Grenze. Aisenchuttenschdaaad. Sie kannten Munich, sie kannten Börlin, aber von Aisenchuttenschdaaad hatten sie noch nie gehört. Es klang nach einem Abenteuer.
Ich sah Michael und Jim an und ich konnte mir vorstellen, wie sie morgens ihre Missionsuniformen gebügelt hatten, die Männer müssen Anzüge mit Hemd und Krawatte tragen, das schrieb ihnen ihre Kirche vor, wie sie ihre Namensschilder auf das frisch gebügelte Jackett gesteckt hatten, Elder Michael, Elder Jim. Wie sie am Frühstückstisch über ihre Route durch die Stadt geredet haben, die sie wieder zu Fuß ablaufen
würden. Erst Wohnkomplex 1, dann Wohnkomplex 2, dann Wohnkomplex 3. Sie fühlten sich fremd in ihrer neuen Stadt, aber auf eine anregende, gute Weise. Sie fanden es lustig, dass die Wohnkomplexe keine Namen hatten, nur Zahlen. Vielleicht erinnert es sie an Science-Fiction.
Vielleicht erinnerte sie der Ort auch an ihre amerikanischen Städte, die ebenso für einen neuen Menschentyp aus dem Boden gestampft worden waren, ohne Tradition, ohne Erinnerung, nur auf die Zukunft gerichtet.
Hier, in Aisenchuttenschdaad, war alles nur etwas grauer als zu Hause. Auf den Straßen fuhren keine oder nur wenige Autos. Viele Läden waren geschlossen. Die Supermärkte sahen noch aus wie früher, als es dort einmal im Jahr Apfelsinen aus Kuba gab.
Michael und Jim fühlten sich wie Eroberer, wie ihre Vorväter. Sie haben alle großen Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts gewonnen. Nun, da niemand mehr von heißen oder kalten Kriegen redete, steckten sie neue Grenzen im Osten ab.
Vielleicht machten sie manchmal Fotos, die sie später noch ihren Enkeln zeigen konnten, guckt mal, so sah es hinter dem Eisernen Vorhang aus. We’ve been there – Michael and
Jim.
Und mitten in diesem Museum des Kalten Krieges saßen zwei Mädchen, die darauf warten, dass etwas passierte, wie festgefroren.
Mormonen, was machten die noch mal? Ich hatte keine Ahnung, dass es zwischen der DDR -Staatsführung und den Mormonen seit langem freundschaftliche Beziehungen gab. 1985 wurde im sächsischen Freiberg der erste Tempel für ganz Deutschland eröffnet. Erich Honecker, der inzwischen tot ist, und Thomas S. Monson, der immer noch den Mormomen vorsteht, lobten sich 1988 bei einem Treffen gegenseitig. Damals, in Eisenhüttenstadt, waren mir die Mormonen
fremd.
In einem Buch hatte ich von einer amerikanischen Sekte gelesen, deren Mitglieder sich in den Urwald zurückgezogen hatten. Irgendwann brachten sie sich mit Zyankali um, weil sie dachten, dass die Endzeit naht.
Ich musterte die beiden Männer auf dem Bett vor mir gründlich, mit ihren rasierten Gesichtern, den kurz geschnittenen Haaren. Sie wirkten nicht unsportlich. Sie sahen nicht so aus, als ob sie in nächster Zeit einen Massenselbstmord planen. Sie wollten nur unsere Seelen retten.
Der eine Mormone kramte in seinem Rucksack und holte ein blaues Buch heraus. Er schenkte uns das Buch Mormon. Ich verstand, dass das eine Art Bibel für die Mormonen war. Sie erzählten uns von Joseph Smith, einem Landarbeiter, der Gott und Christus und später einem Engel namens Moroni begegnet war. Ich hörte ihnen zu, es klang alles ausgedacht. Andererseits hätte ich dem Klang ihres Englisch ewig zuhören können. Es war, als wäre die Welt in unser Wohnheimzimmer gekommen.
Der Engel hatte Smith goldene Platten übergeben, auf denen in altägyptischer Schrift die neue Religion geschrieben stand. Der Landarbeiter Joseph Smith hatte plötzlich Altägyptisch verstanden. 1830 war das Buch Mormon erschienen, und Smith wurde ein Prophet, den Tausende anbeteten.
Ich fand es interessant, dass ein Mensch Gott werden konnte, bei den Christen, so hatte ich das aus meinen rudimentären Kenntnissen im Hinterkopf, ging das nur umgekehrt. Außerdem rührte es mich, wenn Menschen für ihre Überzeugungen und Ideen einstanden, auch wenn sie noch so absurd waren.
Vielleicht dachten sie,
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