Eisenkinder
Staates auf politischem Wege. Ich glaubte nicht an Parteibücher. Ich glaubte nicht daran, dass politische Parteien etwas bewirken können.
Wenn über den Mauerfall gesprochen wird, ist meist die Rede von einer friedlichen Revolution. Doch es war keine Revolution, keine von einer Partei oder einer sonstigen politischen Einheit gesteuerte Aktion, die mit dem Ziel einer Umwälzung agierte. Es war ein Zerfall. Ein Land zerfiel in seine Einzelteile. Bevor seine Bewohner sich dessen bewusst werden konnten, ich meine: wirklich bewusst werden konnten, waren sie schon zu Bürgern eines anderen Landes geworden. Etwas war zu Ende gegangen, aber nichts Neues hatte begonnen.
Die Partei Bibeltreuer Christen kam selbst in ihrem Stammland Baden-Württemberg kaum über ein Prozent der Stimmen, selbst die Tierschutzpartei war beliebter.
Zu meiner Verteidigung muss ich vorbringen, dass ich es zwar genoss, selbst radikalen Regeln zu folgen, mir aber nicht sicher war, ob ich in einem Land leben wollte, in dem alle diesen Regeln folgen mussten . Sollten wirklich alle Schwangerschaftsabbrüche illegal sein, selbst solche nach Vergewaltigungen? Ich fand das zu hart. Ich dachte an die Berichte aus dem Jugoslawienkrieg, die vielen traumatisierten Frauen. Es war das einzige Mal, dass ich Billy widersprach.
Sie fand, dass ich zu weich sei, und schrieb das meiner mangelnden Glaubensreife zu. Für sie war Abtreibung Mord, und die Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführten, waren Mörder, die bestraft werden mussten. Ich wusste nie, ob sie sich nur wichtigmachen wollte oder ob sie das ernst meinte. Sie war über ihre Eltern gut über die evangelikale Rechte in den USA und ihre Aktionen informiert. Sie zeigte mir eine militante Seite der Religion, die ich faszinierend fand, gefährlich, verboten.
Sie lebte in einem Studentenwohnheim und war immerzu dabei, anderen zu helfen. Sie kochte für ihren Flur, half beim Umzug und bei Hausarbeiten, machte Geschenke. Sie gab sich so großherzig, dass Mutter Theresa gegen sie wie eine engherzige, selbstsüchtige Person erschien. Man hätte ihr das nicht zugetraut, diesem freundlichen, selbstlosen Persönchen, dass sie von einem Gottesstaat, einer Diktatur träumte.
Billy und ich verloren uns ein paar Jahre später aus den Augen. Ich erfuhr, dass sie nach ihrer Promotion in den Sudan gegangen war, um Muslime zu bekehren. Sie gehörte zu den Fundamentalisten, die befürchteten, Europa würde ein islamischer Kontinent, wenn man sich nicht dagegen wehrt. Aber damals, in den Jahren 1995/96, redete kaum jemand über Muslime. Die Worte »Salafismus«, »Burka« und »al-Qaida« waren weitgehend unbekannt, zumindest kaum gebräuchlich.
Billy kannte sich in der Szene aus wie kaum jemand sonst. Sie war in keiner Gemeinde Mitglied, war mal hier, mal da. Woher diese Ruhelosigkeit kam, diese Unfähigkeit, sich festzulegen, fand ich nie heraus. Vielleicht war sie ähnlich auf der Suche wie ich. Vielleicht war es das, was uns zusammengebracht hatte.
Unser gesellschaftliches Leben in der Woche spielte sich in geschlossenen Räumen ab, in zu Kirchen umgewandelten Fabrikhallen oder in Privathäusern. In Kneipen oder Bars gingen wir nie.
Man lernte dauernd neue Leute kennen und die Versuchung war groß, sie für »Freunde« zu halten. Man musste nur die Codes benutzen, die alle benutzten, bestimmte Bibelstellen zitieren, Namen von Predigern, die man gesehen hatte, fallen lassen, schon war man drin. Ich, die noch vor einem Jahr allein durch die Uni geirrt war, hatte plötzlich unzählige »Freunde«. Mein Tagebuch war voller neuer Namen, mein Terminkalender war voll.
Ich hatte keine Zeit, mich mit den Fragen zu befassen, die Außenstehende an radikalen Fundamentalisten interessieren. Warum müssen Homosexuelle Buße tun? Wie kann es sein, dass bestimmte, aus dem Kontext gerissene Bibelstellen Gottes Wille sein sollen? Darüber redete niemand. Das war kein Thema.
Die Ideologie meiner neuen Welt war wie eine Festung, die von außen geschlossen und monolithisch wirkte, innerhalb ihrer Wände aber gab es enorme Verästelungen und Parallelgänge.
Ich benutzte das Wort evangelikal inzwischen wie eine Art Qualitätssiegel. Wenn ich fragte, ist die Gemeinde evangelikal, hieß das etwa: Ist sie sicher? Ist sie koscher?
Ich lernte eine Gruppe kennen, die sich die christlichen Punks nannte. Sie nannten ihre Gottesdienste »Abhängabende«, und man durfte währenddessen rauchen (nicht dass ich diese Möglichkeit
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