Eisenkinder
Angst unter, ich ließ mich in die Arme von Kopfermann fallen.
Die ganze Zeit nach der Wende hatte ich mein Leben in der Hand gehabt, ich hatte alle Entscheidungen alleine getroffen, was ich studiere, wo ich hinziehe, wie ich mein Geld verdiene. Hier, in diesem Taufbecken, wurde ich wieder ein Kind.
Als ich aus dem Taufbecken stieg, klatschten meine Freunde, ein bisschen zu schnell und heftig, als hätten sie eine gute Theatervorstellung erlebt.
Im Umkleideraum suchte ich im Spiegel nach meinem neuen Ich. Doch ich sah nur ein Mädchen mit nassen Haaren und einem nassen, weißen Gewand. Ich sah aus, als sei ich von Jericho nach Hamburg zu Fuß gelaufen.
Später am Tag wurde es tatsächlich noch so, als hätte ich Geburtstag. Ich bekam Geschenke und Karten und man beglückwünschte mich zu meinem neuen Leben. Ich gehörte nun offiziell zu den Christen, die sich »born again«, wiedergeboren, nannten und die sich untereinander stolz erzählten, wie sie ihre Erweckung erlebt haben. So wie Ostdeutsche sich erzählen, was sie beim Mauerfall gemacht haben.
Jesus und die Moorsoldaten
Die wirklich Radikalen, die Gefährlichen in der Gesellschaft, das sind nicht die Lauten, die an Hyde Park Corner predigen oder die ihre Wahrheiten auf einem kleinen Podest vor dem Supermarkt herausschreien. Die wirklich Gefährlichen sind die Stillen, Unauffälligen, scheinbar Angepassten.
An der Uni lernte ich Billy kennen. Billy machte sich hässlich, sie versteckte ihre schmale Figur hinter weiten Sweatshirts, ihre schönen langen Locken band sie zu einem strengen Pferdeschwanz zusammen. Make-Up oder Schmuck trug sie nie. Das war vom Teufel.
Von all den Fundamentalisten, die ich in der neuen Welt kennenlernte, hatte sie wohl den größten Einfluss darauf, dass ich radikaler wurde. Billy wurde fast wie eine Schwester für mich. Dabei hatten wir bis auf unser Studium keine Gemeinsamkeiten, zu anderen Zeiten hätten wir uns nichts zu sagen gehabt: Sie kam aus dem tiefsten Westen, aus Süddeutschland, ihre Eltern engagierten sich bei der Partei Bibeltreuer Christen. Doch die Religion schuf eine neue klassenlose Gemeinschaft: Wenn man in den Klub eingetreten war, zählten diese Kategorien der westlichen Welt nicht mehr. Statusunterschiede verschwanden. Billy gehörte zu der Sorte Christen, die nach jedem Satz Halleluja rufen.
Ich erzählte ihr, wie ich Jesus in mein Herz gelassen hatte, und sie rief »Halleluja«, umarmte mich spontan und schlug vor, dass wir uns hinsetzen und zusammen beten. Mir ging das fast ein wenig zu schnell, Billy hatte schon einen Platz in der Mensa gefunden. Sie fragte, woher ich käme, und als ich es ihr sagte, benahm sie sich, als wäre ich unter Einsatz meines Lebens der DDR entflohen und hätte mit meinen Händen einen Tunnel von Berlin nach Hamburg gegraben. Halleluja. Mich rührte ihre kindliche Begeisterung.
Billy war meist gut gelaunt. Aber sie hatte auch düstere, dunkle Stunden, in denen man sie nicht erreichte. Dann sah ich sie wochenlang nicht. Mobiltelefone, E-Mail, SMS gab es damals noch nicht. Ich weiß nicht, was sie machte, wohin sie verschwand. Irgendwann tauchte sie wieder auf ohne zu sagen, wo sie gewesen war.
Ich fragte nach ihrem Namen und sie erklärte mir, dass ihre Eltern sie nach dem amerikanischen Fernsehprediger Billy Graham benannt haben. Wie bei ihrem berühmten Namensgeber war auch Billys Welt voller Wunder. Dass wir uns an einer Massenuni mit Hunderttausenden Studenten getroffen hatten. Dass wir beide Politik studierten. Dass ich wie sie in die Anskar-Kirche ging. Das waren Wunder.
Ich fand Billys Blick auf die Welt faszinierend. Sie gehörte zu den Fundamentalisten, die alle historischen Ereignisse religiös interpretierten. Der Lauf der Welt, das war für sie ein ständiger Kampf zwischen »Gut« und »Böse«. Es ähnelte der Weltsicht, mit der ich aufgewachsen war, nur mit verkehrten Vorzeichen. Den Kommunismus bekämpfte sie wie den Teufel. Wir hatten merkwürdige, im Rückblick fast surreale Gespräche. Es passte uns beiden: Ich wollte nichts von der DDR erzählen, und Billy fragte mich nichts. Sie wusste ja schon alles.
Nicht die Montagsdemonstranten, nicht Gorbatschow, sondern Jesus habe die Mauer eingerissen. Die Mauer, erfuhr ich, sei ein Werk des Teufels gewesen. Gott habe Satan überwunden. Sie persönlich habe dafür gebetet. Sie sei sogar beim Jesusmarsch 1988 oder 1989 in Berlin gewesen. Das hätte der Mauer einen richtigen Riss gegeben. So hatte ich den
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