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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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kennenlernte, war Kopfermann Mitte 50, er trug graumeliertes Haar, Goldrandbrille und einen Bauchansatz. Alles an ihm strahlte Seriosität aus. Er war der Typ, von dem man sich eine neue Niere oder neue Leber einsetzen lassen wollte.
    Er sprach in seinen Predigten mit einer ruhigen Radiostimme, klang überlegen und streute Bezüge zu aktuellen Debatten ein. Er hatte Theologie und Soziologie studiert, das war etwas Besonderes, die meisten Prediger der evangelikalen Freikirchen hatten keine klassische Hochschulausbildung, sondern kamen von eher dubiosen Bibelschulen. Ich merkte nicht, dass vieles nur aufgesetzt war, er zitierte ein, zwei Sätze von Kierkegaard und Schopenhauer in seinen Predigten, und schon wirkte er selbst wie ein Philosoph auf mich.
    Wenn Kopfermann keinen Talar trug, hatte er einen Anzug an und immer ein mildes Lächeln auf den Lippen. Wie es sich für einen wahren Seelenfänger gehört, war er für das Fußvolk unerreichbar. Nach den Gottesdiensten verschwand er schnell.
    Was die Altnazis in Jena waren, war Kopfermann für mich: eine Autorität, eine Vaterfigur, ein Vorbild.
    Er war akademisch gebildet, gleichzeitig war er sich nicht zu schade, eine schlichte Theologie zu vertreten: Jesus hat vor zweitausend Jahren Wunder gewirkt, er wirkte auch heute noch Wunder. Er stellte sich gegen den Zeitgeist, gegen die liberale Theologie, ich hielt das für mutig und unangepasst. Seit der Wende waren mir wenige Erwachsene begegnet, die für ihre Überzeugungen einstanden, mögen sie noch so unpopulär sein.
    Kopfermann hatte sich selbst vor wenigen Jahren neu erfunden. Er war über Jahrzehnte der Leiter der Geistlichen Gemeinde-Erneuerung der Evangelischen Kirche Deutschland gewesen. Zu seinen Heilungsgottesdiensten in der Hamburger Innenstadt waren Tausende Wundergläubige gekommen, und die Kirchenleitung hatte ihn gewähren lassen. Gottesdienstbesucher berichteten, wenn Kopfermann die Hände auflegte und betete, würden Migräne und Arthrose verschwinden, Schwindelgefühl und Druck ließen nach. Er sprach in einem Jargon aus Esoterik und Soziologie. Er wolle Gottesdienste feiern, »in denen der Mensch sich ganz stark ganzheitlich einbringen könne«, diktierte Kopfermann 1987 einem Stern -Reporter in den Block.
    Die große Zeit der Evangelisation stehe in Westdeutschland noch bevor, sagte Kopfermann. »Gott will sein Volk in Deutschland erneuern und heilen und Erweckung schenken.«
    Er gab sich nicht mit dem zufrieden, was er hatte, er wollte mehr. 1988 verließ er die sichere Beamtenlaufbahn und gründete seine eigene Kirche. In einem Buch mit dem Titel Abschied von einer Illusion – Volkskirche ohne Zukunft rechnete er mit der Landeskirche ab.
    Er benannte seine neue Kirche nach dem ersten Bischof Hamburgs aus dem neunten Jahrhundert: Anskar. Jener Anskar hatte von Hamburg aus den Norden missioniert, Kopfermann hat etwas Ähnliches vor. Ein Jahr später öffneten sich die Mauern und ließen Hunderte gottlose Seelen frei. In der Anskar-Kirche wurde es eng. Als ich dazustieß, rechnete man fest mit einer großen Erweckung bis zum Jahr 2010. Es war eine eigene Agenda 2010.
    Ich lernte Kopfermanns Predigten auswendig und nahm jedes Wort ernst. Wenn er sagte, man müsse mehr beteten, betete ich mehr. Wenn er sagte, wir müssen mehr Menschen zu Jesus holen, sonst treffe uns der Zorn Gottes, wollte ich sofort auf die Straße laufen und Leute bekehren. Vor gar nicht langer Zeit hatte ich mich über die gedankliche Leere beschwert, Kopfermanns Anweisungen gaben mir einen Sinn, einen Zweck im Leben.
    Ich war nun an der Reihe und sollte ins Taufbecken steigen. Kopfermann stand bereits bis zum Bauchnabel drin. Die Temperatur fühlte sich warm an, die Baumwolle sog sich sofort mit Wasser voll, mein Gewand wurde schwer, ich konnte mich kaum bewegen, der Stoff klebte auf meiner Haut.
    Dann legte Kopfermann seine Hand auf meinen Kopf und tauchte mich unter das Wasser. Er hielt meinen Kopf fest im Griff, es waren bestimmt nur Sekunden, aber diese Sekunden kamen mir wie Minuten vor. Bilder schossen durch meinen Kopf: Mein erstes Pionierhalstuch. Meine Jugendweihe, als ich dem Sozialismus die Treue geschworen hatte. Das graue Wollkleid bei der Aufnahmeprüfung. Ich bekam kaum noch Luft. Dann ließ mich Kopfermann los, und ich kam wieder nach oben. Ich hustete und spuckte, aber es machte mir nichts aus. Die Vergangenheit war weit weg, wie abgewaschen.
    Kopfermann tauchte mich noch zwei Mal unter, ich tauchte diesmal ohne

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