Eisenkinder
ergriffen hätte, ich rauchte nicht, natürlich nicht). Es lief Hip-Hop, Gebete wurden gerappt und Jesu Auferstehung war ein »fettes Comeback«. Die Jesus-Freaks, so hieß die Gruppe, hatte eine Kneipe im Vergnügungsviertel St. Pauli gemietet. Sie gingen dahin, wo der Verfall war, den wir bekämpfen sollten. Am Freitagabend organisierten die Freaks einen Umzug auf der Reeperbahn. Sie verteilten Einladungen, auf denen stand: »Komme nur, wenn du wirklich willst! Es könnte dich dein Leben kosten!« In einer Art Trauermarsch trug eine Gruppe schwarz gekleideter Jugendlicher einen selbstgebauten Sarg durch den Kiez. Irgendwann stellten sie die Holzkiste ab. Heraus stieg ein junger Mann, geschminkt als Untoter, und begann zu predigen. Es war eine tolle Show. Selbst die Prostituierten vernachlässigten für einen kurzen Moment ihre Kundenwerbung. Mich beeindruckte das, so könnte man die Welt ändern, nicht mit einer Partei.
Ich kaufte mir ein schwarzes Sweatshirt mit dem Logo der Jesus-Freaks, auf dem ein Alpha und ein Omega verschlungen drauf sind. Es sieht ein bisschen aus wie ein Antifa-Zeichen, obwohl die Freaks politisch eher auf der anderen Seite standen.
Der Mann, der aus der Kiste sprang, war Martin Dreyer, der Chef der Hamburger Jesus-Freaks, der Star der jungen christlichen Fundamentalisten. Alle Mädchen waren in Dreyer verliebt, die Jungs wollten so sein wie er. Er war selbstbewusst, charismatisch und konnte gut reden. Dreyer war auch von Wolfram Kopfermann entdeckt worden. Er lernte von dem Anskar-Chef das Gespür für den Zeitgeist: »Wenn du jemanden wirklich zum Nachdenken bringen willst, dann musst du dir etwas Radikales, Schrilles, Lautes, etwas Provozierendes einfallen lassen«, schreibt er in seiner Biografie Jesus-Freak – Leben zwischen Kiez, Koks und Kirche . 1994 war Dreyer von einer evangelikalen Zeitschrift für seinen Einsatz mit den »Jesus-Freaks« zum »Christ des Jahres« gekürt worden.
Dreyer tauchte eine Zeitlang überall auf. Ich erinnere mich an einen Abend, wo er überdreht wirkte und dem Publikum entgegenwarf, dass alle keine Ahnung hatten, wie man richtig betete, weil wir zu undankbar, verlogen und stolz wären. Ich fühlte mich nicht beleidigt, sondern inspiriert von diesem Wutausbruch. »Martin Dreyer heute total vom Hlg. Geist erfüllt«, schrieb ich danach in mein Tagebuch.
Erst später erfuhr ich aus seiner Biografie, dass er damals wahrscheinlich mit etwas anderem als dem Heiligen Geist erfüllt war. Mitte der neunziger Jahre, kurz nach seiner Wahl zum »Christ des Jahres« fing er offenbar an, Drogen zu nehmen, erst Ecstasy, dann Koks. 1999, als ich mich von den Fundamentalisten abwendete, spritzte er sich eine Überdosis Kokain und fiel ins Koma. Dreyer überlebte und würde später seine Drogensucht überwinden, mit Gottes Hilfe.
In der Kirche lernte ich reden. Am Anfang musste ich noch aufgefordert werden, später wartete ich darauf, dass der Moment kam, wenn gefragt wurde, ob jemand »Zeugnis« geben will. Ich sagte nur ein paar wenige allgemeine Sätze: »Früher war mein Leben leer und sinnlos, ich dachte nur an mich und mein Fortkommen. Seitdem ich Jesus kenne, hat sich das verändert. Ich verstehe die Bibel und erlebe Jesus im Gebet. Ich weiß jetzt, was gemeint ist, was der Sinn des Lebens ist.« Ich war in vielen Kirchen und sagte immer wieder mein Sprüchlein auf. Es kam gar nicht auf die Worte an, sondern darauf, dass man möglichst emotional und gerührt von sich selbst wirkte.
Ich merkte, wie ich mich veränderte. Ich wurde selbstbewusster in meiner neuen Rolle.
Ich dachte in anderen Kategorien, für mich gab es nur noch Christen und Nicht-Christen, keine Ostler oder Westler.
Nie redete ich darüber, woher ich kam. Ich hatte gar keine Herkunft mehr. Ich besaß keine Fotos von meinen Eltern oder meinen Geschwistern oder von dem Dorf, in dem ich aufgewachsen war. Es gab keinen Boden, mit dem ich mich verbunden fühlte.
Ich fuhr nur selten nach Hause, ein-, zweimal im Jahr. Der Unterschied zwischen Stadt und Dorf wurde größer. Jedes Mal stand wieder ein Haus leer, verlassen. Früher besuchten sich die Menschen gegenseitig. Jetzt saßen sie vor dem Fernseher.
Nie fuhr ich in die Stadt, in der ich zur Schule gegangen war. Als ob schon ein Besuch mich kontaminieren und meine Versuche, den Osten abzustreifen, rückgängig machen könnte.
Meine Eltern nahmen meine Veränderung hin, wie sie alle Veränderungen hinnahmen: mit einer resignierten
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