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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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Teilnahmslosigkeit. Ich betete vor dem Essen und ließ Jesus in die Gespräche einfließen. Als meine Mutter fragte, wie die Kirche hieße, in die ich gehe, log ich und machte die Anskar-Kirche zu einer evangelischen Kirche, die ein wenig freier war als andere. Ich erzählte ihr nichts vom Heiligen Geist, nichts von der Zungenrede und den ekstatischen Gottesdiensten. Ich wollte sie schützen.
    Ich erinnerte sie daran, dass sie früher in die Junge Gemeinde gegangen war – auch wenn ich wusste, dass das damals, Ende der sechziger Jahre in der ländlichen DDR , etwas anderes war. Sie war keine Widerständlerin, keine Dissidentin, sie ging zum Pfarrhaus, weil es dort Bücher gab, die sie zu Hause nicht hatte.
    Zu Freunden und Bekannten sagte meine Mutter: Sabine ist religiös geworden. Vielleicht triumphierte sie auch ein wenig über meinen Vater, der einst nicht gewollt hatte, dass seine Kinder getauft werden.
    Zurück in Hamburg arbeitete ich noch verbissener als vorher an meinem Ruf als perfekte wiedergeborene Christin. Wir müssen »Frucht« bringen, hatte der Pastor gesagt. Wenn wir keine »Frucht« bringen, kann Gott uns verstoßen. Bei »Frucht« ging es nicht um Weizen oder Äpfel. Es ging um Ungläubige, die gerettet werden mussten. Jeden Montag schleppte ich einen Koffer voller Bücher und einen Tapeziertisch über den Campus. Ich stellte ihn vor die Mensa, legte eine Decke mit der Aufschrift »Gott ist groß« darauf und sortierte die Bücher.
    Gott stiftet Ehen.
    Jesus unser Schicksal.
    Aufbruch zur Stille.
    Hoffnung für alle.
    Ich stand hinter dem Büti, dem Büchertisch, und wartete, dass etwas passierte. Ich war stolz auf meine neue Rolle als Büti-Verantwortliche. An der Uni gab es nicht nur Jusos, Grüne, Sozialisten und die Junge Union, sondern auch zwei missionarische Studentengruppen, die miteinander sowie um die Seelen der Studenten rangen. Beide Gruppen hatten eine kleine, aber eifrige Anhängerschaft: die eine ungefähr zwanzig Mitglieder, die andere fünf. Ich schloss mich der kleineren Gruppe an, den Underdogs. Je größer die Herausforderung, desto besser. Gleich beim ersten Treffen bekam ich einen Posten. Ich sollte den Büchertisch koordinieren, Bücher kaufen und verkaufen, die Kasse verwalten.
    Es war mein erster Posten, seitdem ich Polit-Agitatorin des Gruppenrates in der siebten Klasse gewesen war. Damals musste ich eine Woche lang die Zeitung lesen, Neuen Tag, Junge Welt , und am Donnerstagmorgen das Gelesene für die Klasse auswerten. Meistens ging es um Nicaragua. In Nicaragua tobte ein großer Kampf, gute Kommunisten gegen böse Revanchisten – und wir waren auch dabei. Wir waren eigentlich immer im Krieg – einem Krieg, der sich ganz friedlich anfühlte. Mindestens einmal im Monat organisierten wir einen Kuchenbasar, um Geld für Nicaragua zu sammeln.
    Vielleicht fiel es mir deshalb so leicht, den Kampf in der Kirche fortzusetzen, mit anderen Mitteln. Diesmal agitierte ich für Jesus. Evangelisation war ein 24-Stunden-Job.
    Mag sein, dass ich in diese Rolle manipuliert wurde, aber dort auf dem Campus zu stehen, mein Gesicht zu zeigen, half mir kurioserweise, Kontrolle über mein Leben zu gewinnen. Ich war keine Ostlerin mehr, die sich klaglos und teilnahmslos in ihr Schicksal fügte. Ich hatte nicht wie die Generation meiner Eltern aufgegeben, ich kämpfte.
    Ich stand hinter dem Tuch mit der Aufschrift »Gott ist groß«, und es fühlte sich wie eine Entscheidung an, die ich freiwillig getroffen hatte. Ich versteckte mich nicht, ich stand für meine Überzeugungen ein, auch wenn sie von der Mehrheit der Gesellschaft abgelehnt wurden. Der Widerspruch meiner Kommilitonen regte keine Zweifel an, sondern machte meinen Glauben noch stärker, er lehrte mich, noch weniger nach links oder rechts zu schauen. Ich fühlte mich als Auserwählte.
    Jeden Montag hoffte ich von Neuem, Gott würde zeigen, was er draufhatte. Es hielt nur selten jemand an, deshalb hatte ich viel Zeit, mich in meine Fantasien hineinzusteigern.
    Er konnte hier, wie in Pensacola in den USA oder wie im kanadischen Toronto, seinen Geist ausgießen, der Himmel würde sich verdunkeln, schwarze Wolken würden aufziehen und dann, wumm, ein Blitz. Ich stellte mir vor, wie meine Kommilitonen sich auf den Boden werfen würden, sich schütteln, wiehern und ihre Sünden bekennen würden.
    Es war zwölf Uhr mittags, die Studenten hatten Hunger und steuerten die Mensa an. Sie fielen nicht auf die Knie, schüttelten sich nicht und

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