Eisenkinder
bekannten auch nicht ihre Sünden. Sie stolperten nicht mal ein bisschen. Sie streiften meinen Tisch mit den Augenwinkeln, mit hämischem Blick.
Aus dem Wirtschaftswissenschaften-Gebäude kamen die Langweiler mit ihren Aktenkoffern, Segelschuhen, gegelten Haaren und rosigen Nutella-Gesichtern, die sich so toll fühlten, wenn sie in ihren neuen Golf stiegen, den Papa zum Studienbeginn spendiert hatte.
Die waren so satt, die waren längst tot, bevor sie starben.
Selbst wenn Kurt Cobain leibhaftig vor ihnen stünde, würden sie achtlos an ihm vorbeigehen.
Jetzt seid ihr noch stark, aber später werdet ihr winseln. Später werdet ihr bereuen, dass ihr durch mich durchgeschaut habt. Ich war eure Chance.
Sollen diese verdammten Sünder doch in der Hölle landen.
Dann wieder überkam mich Mitleid und ich dachte, ich müsste ein wenig offensiver sein. Außerdem verging die Zeit schneller, wenn man Leute ansprach. Ich hatte kein Problem mehr, auf Fremde zuzugehen. In der neuen Welt wurde nichts dem Zufall überlassen. Bevor ich an den Büchertisch gestellt wurde, absolvierte ich eine Schulung, bei der ich den Fünf-Punkte-Plan der Evangelisation lernte: Interesse zeigen, Beziehung aufbauen, über Jesus sprechen, Entscheidung fordern, Rückfragen .
So fremd wie mir die Betriebswirtschafts-Studenten damals schienen, waren sie mir gar nicht. Bei den Mitteln, mit denen die radikalen Christen versuchten, etwas zu verkaufen, hatten sie sich von den klassischen Marketing-Techniken inspirieren lassen. Der Fünf-Punkte-Plan klang wie die Anleitung für ein Verkaufsgespräch. Und so ähnlich war es ja auch.
Das Gespräch kippte, sobald die Rede auf Jesus kam. Sobald ich das Wort »Jesus« fallen ließ, änderte sich der Blick. Jesus war damals ungefähr so beliebt wie Erich Honecker oder Stalin. Das hatten die Erfinder des Fünf-Punkte-Plans zur Evangelisation leider vergessen. Der Ungläubige wollte nur weg, war aber auch nicht stark oder unhöflich genug, um mich stehenzulassen. Das war der Moment, den ich am meisten mochte, an dem ich ein Gefühl von Macht spürte. Ich versuchte, den Moment hinauszuzögern, das Wort Jesus zu vermeiden, und benutzte Umschreibungen, »Sinn des Lebens«, »Glück«, »Happiness«.
Die Religion hatte sich viel von der amerikanischen Selbsthilfe-Bewegung und dem Positive Thinking abgeguckt.
Es hielten auch Irre an. Schlimm waren die, die dachten, sie könnten sich mit mir auf eine theologische Diskussion einlassen. Die taten besonders schlau und erzählten von Nachweisen, dass die Evangelien keine zuverlässigen Berichte über die wirklichen historischen Ereignisse darstellten, angeblich seien sie erst lange nach dem Tod Jesu geschrieben worden. Ein Typ hatte Widersprüche bei der Geburt Jesu im Lukas- und im Matthäusevangelium gefunden. Das müsse doch jemanden beunruhigen, der die Bibel wörtlich nimmt, sagte er.
Mich beunruhigen eher Krümelkacker wie du, die in ihrem mickrigen Leben nichts Besseres zu tun haben, als kleinliche Fehler in einem Heiligen Buch zu suchen. Das sagte ich natürlich nicht. Ich sagte, du, wir können über alles reden.
An einem Tag, als es regnete und wir im Gebäude direkt vor der Mensa standen, raste einer auf mich zu und fing an mich zu beschimpfen. Das sei ein Totalausfall, was wir hier machten, Religion sei Opium fürs Volk. Er zog an der Decke und riss die Bücher runter. Ich war fasziniert. So deutlich hatte sich der Teufel noch nie manifestiert. Ich griff nach der »Hoffnung für alle«-Bibel und hielt sie ihm entgegen.
Ich sagte, wie heißt du, ich werde für dich beten.
Zu meiner Überraschung nahm der Irre die Bibel und sagte: Wladimir. Er sagte, er sei nach Lenin benannt worden. Wladimir Iljitsch Lenin. Ich musterte ihn für einen Moment.
In der DDR gaben die Eltern ihren Kindern in den siebziger Jahren amerikanische Namen, Ronny, Denny oder Maik, aber niemand wäre darauf gekommen, sein Kind nach Lenin zu nennen. Der Mann musste aus dem Westen sein.
Wir kamen ins Gespräch, er erzählte, dass er schon als Kind immer auf Demonstrationen mitgelaufen war. Seine Eltern waren Kommunisten. Sie hatten ihn im Sommer sogar in die DDR ins Ferienlager geschickt.
Mich rührte das so sehr, dass ich meine Regel brach, nicht über meine Herkunft zu reden. Ich sagte, dass ich die DDR gut kenne. Er fragte mich aus, er wollte alles ganz genau wissen, auf welche Schule ich gegangen war, welches Halstuch ich als Pionier getragen hatte, wo ich im Ferienlager
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