Eisenkinder
ihn zur Rede und hielt ihm eine Standpauke, meine Oma erzählte ihm von den Zügen nach Auschwitz, die sie als Kind beobachtet hatte.
Es war keine leichte Zeit für meine Eltern: Die älteste Tochter, 22, in einer christlichen Sekte, die mittlere Tochter, 16, litt in der Schule, und der Sohn, 14, hatte die falschen Freunde.
Heute würde man vielleicht zu einer Beratungsstelle geben, Nachhilfelehrer engagieren, aber das war damals entweder nicht üblich oder es fehlte der Mut, sich einzugestehen, dass etwas schieflief.
Vieles von dem, was passierte, habe ich erst später erfahren. Ich kannte nur Puzzleteile, die erst viel später Sinn ergaben. Ich war weit weg, auf dem Weg nach Russland.
Zwei Tage nach der Abfahrt in Travemünde kamen wir in Tallinn, Estland, an. Dort fand das Missionslager statt, in dem die Teilnehmer auf ihren Einsatz vorbereitet wurden.
Ich wurde in einem Schulkomplex mit mehreren Gebäuden untergebracht, ich rollte meine Isomatte auf dem Boden eines Klassenraumes zwischen zwei Schlafsäcken aus. In jedem Raum schliefen zwanzig Frauen, am Ende der Gänge lagen die Waschräume. Es erinnerte mich an die Pionierlager von früher.
Man lernte das Einmaleins der Missionarsschule: keine Alleingänge, keine Einmischung in politische Angelegenheiten, respektvolle Kleidung. Man durfte nur zu zweit ausschwärmen, so wurde gesichert, dass man moralisch anständig blieb, Männer und Frauen getrennt.
Wir waren fünfhundert, vielleicht achthundert junge Leute zwischen 18 und 35. Die Teilnehmer der Einsätze wurden auf ihre Aufgabe vorbereitet, eingepeitscht mit Geschichten von unterdrückten Christen in Usbekistan, China und Russland. Amerikanische Gurus wurden per Videobotschaft aus den USA zugeschaltet. Das alles vermittelte das Gefühl, Teil einer weltweiten Bewegung zu sein.
Wer nach Tallinn kam, gehörte zu Gottes Elitetruppe und war bereit, sich Verhaltensregeln unterzuordnen. Man lernte, dass man am Zielort nur Personen gleichen Geschlechts ansprechen sollte, möglichst Gleichaltrige oder Jüngere.
Die wenigsten, die sich zum Crashkurs für Missionare in Tallinn angemeldet hatten, sprachen russisch oder eine andere osteuropäische Sprache. Die Führer hatten auch daran gedacht. Mit wenigen Strichen lernte man, das Evangelium in Zeichensprache zu übermitteln. Vier Bilder, vier Schritte. Das letzte Bild zeigte einen Galgen, an dem ein Strichmännchen hing. Das passierte, wenn man sein Leben nicht Jesus übergab. Man starb, um ewige Höllenqualen zu erleiden. Ich malte die Skizzen eifrig ab.
Außer mir hatte sich nur noch ein einziges Mädchen, eine Amerikanerin mit finnischer Mutter, für Russland angemeldet. Sie sah aus wie aus dem Filmset von Doktor Schiwago . Sie trug einen Strickpulli, lange, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene blonde Haare und einen langen, bis auf den Boden reichenden Rock. Sie sah so aus, wie ich mir die perfekte biblische Frau vorstellte.
Sie hieß, kein Witz, Larissa.
Geleitet wurde unser Team von drei finnischen Männern, die vom Alter her unsere Großväter hätten sein können und die nur finnisch sprachen. Ich weiß nicht mehr genau, woher sie kamen, ich weiß nur, dass ich ein bisschen Angst vor ihnen hatte. Sie sahen alle drei gleich aus, dicker Bauch, Halbglatze, ein verschlossener Blick, aus dem man nie genau lesen konnte, was sie dachten. Sie hätten auch Zuhälter sein oder atomwaffenfähiges Material in den Iran schmuggeln können, aber wahrscheinlich waren sie harmlose Familienväter. Bestimmt.
Meine Mutter hatte mich immer vor fremden Männern gewarnt. Aber nun war es zu spät.
Ich nannte sie Finne 1, Finne 2 und Finne 3, weil ich mir ihre Namen nicht merken konnte. Die finnische Sprache, die am ehesten mit dem Ungarischen verwandt ist, klang fremd. Sie schien nur aus Ös und Is und Üs zu bestehen.
Joo hieß Ja und Ei hieß Nein. Joo, ei.
Wenn die drei Männer redeten, klangen sie nicht wie Gangster, sondern eher wie Kleinkinder, die noch nicht gelernt hatten, Konsonanten auszusprechen.
Ich hatte keine Intention, Finnisch zu lernen und die Männer sprachen weder russisch noch englisch, also würden wir die meiste Zeit in den nächsten Wochen schweigend verbringen. Wo sie herkamen, was sie nach Russland geführt hatte, das erfuhr ich nicht.
Wenn die Finnen uns etwas mitzuteilen hatten, warfen sie Larissa ein paar Brocken Vokale hin, und sie übersetzte. Finnische Männer, das weiß man aus Kaurismäki-Filmen, sind eher schweigsam.
Ich saß im
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