Eisenkinder
unseren Taschen hinterher. Die Wohnung war leer, komplett unbewohnt. Zwei Zimmer mit jeweils drei Betten, Küche, Bad.
Ich sah, wie Larissa, schon ganz russisch-schicksalsergeben, ihre Tasche öffnete und auszupacken begann. Doch es gab keinen Schrank, keinen Tisch, nur ein Regal.
Ich hätte die Bibel, die ich mitgebracht hatte, aus dem Fenster schmeißen können. Ich war geschockt und wütend auf mich selbst. Was hatte ich denn erwartet? Luxus? Ein Zimmer im Hilton?
Aber ich hatte keine Wahl, ich war über zweitausend Kilometer von zu Hause entfernt. Es gab kein Telefon und ich hatte keinen einzigen Rubel in der Tasche. Ich machte das, was mir am leichtesten fiel, ich ordnete mich, wenn auch widerwillig, den fremden finnischen Männern unter und ließ mir nichts anmerken.
Ich konnte mich wie ein Chamäleon in widrigste Situationen einfügen. Vielleicht wird man so, wenn man Brüche in seinem Leben durchgemacht hat, in denen die Existenz davon abhängt, wie gut man Normalität simulieren kann. Ich konnte das ziemlich gut. Meine Angst vor den Finnen und meine Wut darüber, eingesperrt zu sein, verdrängte ich. Ich war inzwischen auch ganz gut im Verdrängen.
Es war heiß in der Wohnung, trotz Sommertemperaturen lief die Heizung, und man konnte sie, wie in russischen Wohnungen üblich, nicht selbst abstellen. Dafür gab es kein warmes Wasser. Die Stadt hatte kein Geld dafür, die maroden Wohnungen zu sanieren.
Überall schimmelten die Wohnungen der Genossenschaften vor sich hin.
Willkommen im neuen Russland.
Die neoliberalen Reformen des Präsidenten Boris Jelzin hatten im Wesentlichen darin bestanden, einige wenige Menschen sehr reich und viele sehr arm zu machen. »Schocktherapie« nannte er das. Renten und Löhne in öffentlichen Betrieben wurden nur unregelmäßig ausgezahlt, ein Teil des Volkes hungerte.
Trotzdem traf die Wut nicht Jelzin, der während meiner Ankunft in Russland gerade 1996 wiedergewählt worden war, sondern seinen Vorgänger, den in Deutschland so verehrten Michail Gorbatschow. Er habe Russland an den Westen verkauft, lautete der Vorwurf, den ich immer wieder hören würde.
Die nächsten Tage liefen immer gleich ab. Die drei Finnen sah ich kaum, sie verschwanden morgens in aller Frühe und kamen erst spätabends zurück. Sie pflegten Kontakte, erklärte mir Larissa. Was das für Kontakte waren, wusste ich nicht genau. Angeblich unterstützten sie finnischsprachige Hausgemeinden, die sich konspirativ in privaten Wohnungen trafen. Sie hätten einen Drogenschmuggelring aufbauen können und ich hätte nichts gemerkt.
Während die Finnen unterwegs waren, hatten Larissa und ich den Auftrag, Kontakte zu knüpfen. Unsere Aufgabe war es, mit jungen Frauen in unserem Alter ins Gespräch zu kommen. Das war schon ein erstes Problem, denn junge Frauen hielten sich kaum auf den Straßen auf. Die Stadt wirkte im Vergleich zu westlichen Städten unfassbar leer. Autos und Busse konnte sich niemand leisten, die meisten Menschen gingen zu Fuß oder benutzten Sammeltaxis.
Kurioserweise gibt es Ähnlichkeiten zwischen Eisenhüttenstadt und Petrosawodsk. Die russische Stadt wurde 1703 für die Arbeiter einer neuen Eisenhütte im abgeschiedenen Karelien gebaut – von Zar Peter I., der auch St. Petersburg errichtete. Petrosawodsk war auch eine Planstadt, wie Eisenhüttenstadt 250 Jahre später.
Auf Bänken am Straßenrand saßen die Babuschkas, alte Frauen mit Kopftüchern, die wie hundert aussahen und wahrscheinlich nicht mal sechzig waren, sie flüsterten, wenn Larissa und ich vorbeiliefen. Die Babuschkas musterten diese zwei westlichen jungen Frauen misstrauisch. Niemand außer einer Handvoll Zeugen Jehovas, die auch durch die Stadt irrten, trug in Petrosawodsk lange Röcke und weite T-Shirts. Es war sozusagen das Erkennungszeichen der Sektenmitglieder.
Ich lernte mit der Zeit, verheiratete von ledigen Frauen zu unterscheiden. Die Ledigen waren dünn, mit langen Beinen, sie trugen am liebsten grelle Farben, viel Glitter und hohe Schuhe. Keine Ahnung. Die meisten Mädchen gingen nie ohne Lippenstift und Lidschatten aus dem Haus, sie waren, wie die Mädchen bei Heidi Klum später, »always on«.
Dann, sobald die Frauen verheiratet waren, mit 21 oder 22, veränderte sich ihre Körperform. Sie trugen immer noch grelle Farben und Glitter, sie wirkten aber jetzt, als hätten sich kleine Elefanten in Kindersachen gedrängt.
Wann genau diese Metamorphose passierte, weiß ich auch nicht, und wie war das für
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