Eisenkinder
geltenden Leitbilder der Gesellschaft. Dachte ich.
Meine Haare waren kurz, ich trug einen langen Rock, eine hochgeschlossene Bluse, flaches Schuhwerk. Ich sah aus wie eine Missionarin. Ich musste nicht mehr hübsch sein.
Obwohl ich nichts Verbotenes vorhatte, wusste ich instinktiv, dass ich vor Außenstehenden die wahre Motivation meiner Reise besser verbarg. Meine Pläne, das Studium aufzugeben, erwähnte ich nicht. Seitdem ich religiös geworden war,
hatte ich eine gewisse Geschicklichkeit darin entwickelt, meine wahren Motive und Verbindungen zu verstecken. Meiner Mutter erzählte ich, dass ich mich in einer kirchlichen Organisation um Waisenkinder kümmern würde. Sie zeigte sich verständnisvoll, zitierte eine Bibelstelle, in der es um Nächstenliebe ging.
Meine Mutter fragte auch nicht genauer nach, wieso ich plötzlich meine soziale Ader entdeckt hatte. Später erfuhr ich, dass sie sich beim Dorfpfarrer nach der Missionsgesellschaft erkundigt hatte, ob sie gefährlich sei. Aber der Dorfpfarrer hatte den Namen noch die gehört und meine Mutter beruhigt, das sei sicher eine ganz harmlose Organisation.
Mein Glaube schuf eine Distanz. Es war schrecklich zu wissen, dass die eigenen Eltern später in der Hölle landen würden und man nichts dagegen tun konnte. Wir lebten in zwei verschiedenen Welten.
Was hätten meine Eltern tun können? Sie kämpften wie viele Ostdeutsche damals an mehreren Fronten.
Meine Schwester war auf das Gymnasium gewechselt, aber sie kam mit dem Druck nicht zurecht und wollte die Schule abbrechen.
Auch mein Bruder entwickelte sich in eine seltsame Richtung. Er hörte inzwischen Musik von Neonazi-Bands wie Landser, Stahlgewitter oder den Zillerthaler Türkenjägern.
Die verbotenen CD s kursierten Mitte der neunziger Jahre auf den Schulhöfen. Freunde gaben sie an Freunde weiter. Die halbe Klasse fuhr zusammen auf den Polenmarkt hinter der Grenze und kaufte T-Shirts von Thor Steinar oder anderen rechten Marken. Die Polen und die Vietnamesen, die auf dem Markt ihre Stände hatten, hatten ihr Angebot schnell dem Bedarf angepasst. Die Absurdität fiel den Wenigsten auf.
Die Dörfer wurden immer leerer, viele Häuser waren unbewohnt. Für die Feste, auf denen die Menschen früher zusammenkamen, gab es kein Geld mehr. Der Konsum und die Kneipe wurden geschlossen, und wenn man ein frisches Brot kaufen wollte, musste man zwanzig Minuten in die Kreisstadt fahren. Der Bus fuhr zweimal am Tag.
Die um die 30-jährigen Männer gingen weg, in den Westen oder nach Skandinavien, wo Handwerker besser bezahlt wurden, und hinterließen eine Schar alleinerziehender Mütter und vaterloser Kinder. Das war die Logik der neuen Welt: Auf den Baustellen in Ostdeutschland fand man Portugiesen und Polen, während die Ostdeutschen wiederum auf norwegischen Baustellen arbeiteten. Die Väter, die blieben, hingen in Umschulungsräumen herum und »lernten Computer«. Die Söhne suchten andere Rollenbilder. Die neuen Freunde meines Bruders waren ähnliche Typen wie Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die zur gleichen Zeit in Jena herumliefen und Plakate für die NPD -Jugend klebten. Böhnhardt und Mundlos waren 1995/1996 noch keine Terroristen, hatten aber schon erste Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Sie treten 1996 gemeinsam mit dem NPD -Chef Holger Apfel auf Demonstrationen auf, gründen gleichzeitig mit Freunden die Kameradschaft Jena.
Die Neonazis auf dem Land waren weniger gefestigt, aber sie verkörperten eine Art von Männlichkeit, die attraktiv war, wild, stark, dynamisch. In einem Dorf, das starb, schienen sie das einzig Lebendige.
Die Jungs aus dem Dorf spielten mit Waffen auf den Truppenübungsplätzen, die die Russen zurückgelassen hatten. Am Wochenende setzten sie sich gemeinsam ins Auto und fuhren über die Dörfer. Sie wollten Türken jagen, gaben sich mangels Türken aber auch mit den Nachbarn als Opfer zufrieden.
Mein Bruder war ein Mitläufer, er hat nie jemandem etwas getan, aber ihm gefiel es, wild und gefährlich zu wirken.
Die rechtsextreme Karriere meines Bruders endete nach wenigen Wochen, als meine Mutter in seinem Schrank ein T-Shirt mit der Aufschrift »White Aryan« sowie mehrere indizierte CD s fand. Sie war bestürzt, sie gehörte zu der Generation, die mit dem Schrecken des Holocausts aufgewachsen war. Die DDR hatte sie wegen ihres Antifaschismus für den besseren deutschen Staat gehalten. Jetzt brachte ihr Sohn solchen Schmutz nach Hause. Als er aus der Schule kam, stellte sie
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