Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
Vom Netzwerk:
Auto und schaute aus dem Fenster. Eine Melancholie machte sich breit, während wir stundenlang durch Wälder fuhren. Die Euphorie, die noch im Missionslager geherrscht hatte, war auf einen Schlag weg.
    Ich hatte mich wiederholt in eine Situationen gebracht, in der ich jegliche Unabhängigkeit verlor. Ich konnte mich nicht frei artikulieren, ich konnte mich nicht frei bewegen. Ich dachte an die Soldaten, die früher durch das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gefahren sind. In den Wäldern der Umgebung waren die Russen stationiert, sie hatten ihre Kasernen, ihre Geschäfte, ihre Krankenhäuser. Sie waren offiziell die »Freunde«, aber man durfte keinen privaten Kontakt haben. Ihre Kasernen glichen verbotenen Städten. Jeden Tag rumpelten Kolonnen über den Asphalt, hinten unter den Planen, kauerten junge Männer in Uniform. Junge, traurige Gesichter. Die Soldaten waren eingesperrt, wenn sie zu fliehen versuchten, wurden sie erschossen. Ich musste an diese Gesichter denken, als ich mit den Finnen durch Russland fuhr.
    Schon die Zaren verbannten ihre Gefangenen nach Karelien. Es gibt etwas weiter nördlich ein Kloster mit Namen Solowniki, das schon im 14. Jahrhundert als politisches Gefängnis benutzt wurde. Die Kommunisten machten nach der Revolution 1917 einen Gulag daraus. Inzwischen ist es wieder ein Kloster.
    Wäre ich eine Malerin, hätte ich Studien des unterschiedlichen Grüns betreiben können. Ansonsten gab es wenig, woran sich das Auge festhalten konnte. Keine Berge, kein Meer, nur Wälder und glatte, stille Seen. Halb Karelien ist von Wasser bedeckt. Menschen sah ich ebenso wenig wie Braunbären, die hier leben sollten, dafür standen verloren einzelne kleine Holzkirchen herum.
    Es gibt viele Gründe, gegen die orthodoxe Kirche zu sein, ihre fragwürdige politische Rolle beispielsweise, die Kirche hat sich in Russland jahrhundertelang als Stütze des Zaren gesehen und die Ausbeutung der Bauern toleriert. Aber immerhin war es eine christliche Kirche, wäre es nicht sinnvoller, Ungläubige zu erreichen?
    Ich frage Larissa halb scherzhaft, halb ernst, ob ich wir den falschen Einsatzort gewählt hatten.
    Die orthodoxe Kirche sei eine Irrlehre, sagte sie mit sanfter Stimme. Die orthodoxen Gläubigen würden ebenso wie die Ungläubigen in der Hölle enden. Sie schien sich da sehr sicher. Ökumene lehnte sie ab, wie die meisten Freikirchen.
    Die Finnen lenkten das Auto über Schotterpisten, ich sah stundenlang kein anderes Auto, manchmal entdeckte ich Holzhütten und Frauen mit Kopftüchern, die an den Ufern der Seen ihre Wäsche wuschen und Trinkwasser holten. Die Menschen schienen unberührt von historischen Ereignissen zu leben. Die Zeit stand still.
    Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie dachten, in Moskau regiere noch der Zar.
    Dass unsere Mission von drei Finnen geleitet wurde, war nicht so ganz abwegig, wie es mir zunächst vorgekommen war. Der Landstrich nördlich von St. Petersburg gehörte früher zu Finnland, die Bauern in den Dörfern sprachen karelisch, einen finnischen Dialekt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Finnen, die an der Seite der Deutschen gekämpft hatten, einen Teil von Karelien an die Sowjetunion abgeben müssen. Vierhunderttausend Finnen waren vor dem Kommunismus geflohen. Karelien war geteilt worden, so wie Deutschland. Ich fuhr in meine Vergangenheit, in die finnische DDR .
    Unser Ziel war die karelische Hauptstadt, Petrosawodsk am Onegasee. Als Erstes fiel mir in der Stadt eine haushohe Statue an einem leeren Platz auf, der Rasen war schon eine Weile nicht mehr gemäht worden. In Deutschland waren Mitte der neunziger Jahre die meisten Lenin-Büsten zerstört worden, die Spuren der Vergangenheit mussten getilgt werden, aber hier saß er noch, das Symbol unserer ehemaligen Waffen- und Wertegemeinschaft, Genosse Wladimir Iljitsch Lenin. Ein schwarzer Riese, sein steinerner Finger maß mehr als ein menschliches Bein. Trotz seiner Größe wirkte Lenin in seiner vergangenen Omnipotenz lächerlich, schlaff.
    Anfang der zwanziger Jahre, als er mit seinen Bolschewiki die Macht übernommen hatte, wurden Gotteshäuser geschlossen und Tausende Priester und Gläubige erschossen. Als bibeltreue Christin hätte ich ihn hassen müssen. Aber er tat mir leid.
    Na, Genosse, wie fühlt man sich als Verlierer der Geschichte?
    Nach einer weiteren Dreiviertelstunde Fahrt hielt der Bus vor einem Hochhaus am Stadtrand. Finne 1, Finne 2, Finne 3 rannten die Treppe hoch, Larissa und ich liefen mit

Weitere Kostenlose Bücher