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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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ankommen«, hieß es.
    Ankommen ja, aber wo?
    Ich lebte nun in einer Demokratie, aber was bedeutete das?
    Wenn man die volle Lebenserwartung erreicht, kann man im Leben vielleicht fünfzehn Mal darüber abstimmen, welche Parteien in den Bundestag kommen, vielleicht noch genauso oft darüber, wie der Landtag aussieht. Die Chance, dass man Abgeordneter, Minister oder Bundeskanzler wird, sind äußerst gering. Die größte Mehrheit der Menschen wird nie darüber entscheiden, ob Steuern erhöht oder gesenkt werden, wie viel Geld ein Sozialhilfeempfänger verdient, wann deutsche Soldaten in den Krieg ziehen oder zu Hause bleiben. Die größte Mehrheit der Deutschen delegiert diese Fragen an andere und hofft, dass es gut ausgeht. Echte Macht, die Gelegenheit, über das Schicksal anderer Menschen zu entscheiden, haben die Allerwenigsten.
    Ich sah diese Machtverteilung von unten nach oben von Anfang an skeptisch. Der Traum von mehr Bürgerbeteiligung, der in der Wendezeit mit den Montagsdemonstrationen und den großen Kundgebungen auf dem Alexanderplatz formuliert wurde, war nicht vergessen – und konnte doch 1996 nicht ferner von der Realität sein. Deutschland schien festgefahren, Helmut Kohl regierte schon so lange wie Erich Honecker, und die größte Bedrohung der Menschheit schien verseuchtes Rindfleisch aus England zu sein.
    Es gab wenige Möglichkeiten für den Einzelnen, sich einzubringen. Die Westdeutschen hatten sich daran gewöhnt, alle vier oder fünf Jahre ihr Kreuz zu machen und sich nur gelegentlich zu erheben, auf Ostermärschen, Anti-Atom-Demonstrationen. Lange bevor die Kritik an mangelnder Bürgerbeteiligung Mainstream wurde, fühlte ich mich fremd in der Gesellschaftsform.
    Ich fuhr in die Sowjetunion, zum einstigen Bruderstaat, der jetzt Russland hieß. Es war mein Weg, eine gewisse Kontrolle über mein Leben zurückzuerlangen. Ich war nicht mehr passiv.
    Warum Russland? Die Welt stand mir sieben Jahre nach der Wende offen, und ich entschied mich für das Land, in das ich schon früher hätte reisen können, das Teil des Gefängnisses gewesen war? Wäre die Mauer nicht gefallen, hätte ich vielleicht dort studiert. Wahrscheinlich hätte unsere Schul-Abschlussfahrt nach Moskau geführt.
    Ich war wie ein Häftling, der freiwillig in seine Zelle zurückkehrte. Was war das, was mich unbewusst dorthintrieb? Größenwahn? Stockholm-Syndrom? Hass?
    Die Entscheidung kam zufällig. Jemand hatte gesagt, du sprichst russisch, warum wirst du nicht Missionarin in Russland? Die Idee gefiel mir: Während auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt kein Platz für mich zu sein schien, wurde ich in Russland noch gebraucht.
    Ich erinnere mich nicht mal mehr, wie der Name desjenigen war, der das zu mir gesagt hatte. Aber mein Ehrgeiz war geweckt, ich hatte ein neues Ziel. Auf dem Uni-Campus stand ich jede Woche am Büchertisch, doch fast niemand interessierte sich für die Botschaft, die ich hatte. Der Büchertisch genügte mir nicht mehr, ich wollte mehr, ich wollte was erreichen.
    Missionarin bedeutete, Seelen zu retten, Abkehr zu predigen, neues Leben zu geben. Vielleicht redete ich mir das auch nur ein, aber das erste Mal seit der Wende hatte ich das Gefühl, die Ohnmacht zu überwinden, als ich mich entschied, Missionarin zu werden.
    Es gab niemanden, der mich davon abhielt. Billy und Ruth, meine bibeltreuen Freundinnen, waren begeistert. Ruth hatte bereits als Missionarin gearbeitet, Billy würde später in den Sudan gehen, um Muslime zu bekehren. Es war für sie normal, Zeit ihres Lebens der Bekehrung anderer zu widmen.
    Ich meldete mich für meinen Einsatz, es war so, als würde ich eine Urlaubsreise buchen, eintausend Mark für zwei Monate.
    Man kann die Einsätze bei der amerikanischen Missionsgesellschaft immer noch buchen, sie heißen heute auf Neudeutsch »Global challenge« (weltweite Herausforderung). Das Wort Mission wird auf der Website vermieden. Mission hat kein gutes Image mehr. Es klingt nach Kolonialherren, nach Kontrolle und Unterwerfung.
    Die Missionsgesellschaft schickte mich nach Karelien, einer Region nordöstlich von St. Petersburg. Wenn ich mich bewährte, würde ich mein Studium aufgeben und mein Leben dem Dienst für Gott weihen. Das war der Plan.
    Der Kapitalismus fordert, dass man all seine Kraft in die Karriere steckt. Und die Deutschen sind bekannt dafür, dass sie im Beruf besonders gewissenhaft und strebsam arbeiten. Indem ich mich für die Mission entschied, rebellierte ich auch gegen die

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