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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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sofort gestillt werden, um das eigene Ego zu befriedigen. Es gab kein Warten mehr, keine Vorfreude, keine Rücksicht.
    Ich war zu den radikalen Christen gegangen, weil ich geglaubt hatte, dass hier andere Maßstäbe als draußen galten. Doch nun hatte meine neue Glaubensschwester nach den Maximen des westlichen Systems gehandelt. Denn was war die Beziehung zu einem Nicht-Christen anderes als eine Instant-Befriedigung von Wünschen? Sie hatte ihre Selbstsucht und ihren Egoismus über die Regeln der Gemeinschaft gestellt. Ich fühlte mich doppelt betrogen, weil Nadja wie ich ursprünglich auch aus dem Osten kam.
    Meine Wut wurde größer, sie dehnte sich aus, es war, als ob sich zwei Hände um meinen Magen krallten. Normalerweise schwieg ich in den Runden, aber diesmal fing ich an, auf Nadja einzureden. Ich versuchte es mit meiner balsamierten Jesus-Loves-You-Stimme: »Kein Mann kann dir je so nah sein, wie Jesus dich liebt.«
    Ich versuchte es mit der Art von Argumenten, die in Bibelkreisen als vernünftig galten, ich las ihr Bibelverse vor, die Stelle, in der Paulus sagt, dass unser Körper nicht uns gehört, und eine andere Stelle, an der er vor »Hurerei« warnt. Doch sie erwiderte, dass sie nichts dafür konnte, dass sie ihren Freund liebe. Sie sagte das so trotzig, dass es mich weiter aufregte. Sie schien nicht mal zu merken, dass es hier um etwas Größeres ging als um ihre persönliche Befriedigung.
    Klar, die Regeln der Bibel waren hart, manchmal grausam, man musste hart gegen sich sein, um sie einzuhalten, man musste stark sein, doch nur so würden wir wirklich Gottes Reich auf Erden errichten können.
    Ich war fest davon überzeugt, was ich sagte.
    Ich redete immer weiter, meine Stimme wurde lauter. Wie sehr Menschen sich verändern konnten, wenn sie die Macht der Gruppe hinter sich spürten. Wie schnell sich eine harmlose Situation in ein Tribunal verwandeln konnte. Ich verstehe im Rückblick, wieso zweimal hintereinander auf deutschem Boden Diktaturen entstehen konnten.
    Wie viel Kälte, wie viel Härte plötzlich da war. Die anderen rührten in ihrem Tee, doch sie sagten nichts, sie hielten mich nicht auf, ich fühlte die Stille wie eine Zustimmung. Wir waren jetzt keine Westler oder Ostler mehr, es gab nur noch Starke und Schwache. Mir wurde ganz heiß, ich spürte Gott auf meiner Seite, er hatte mich erwählt, um seine Wahrheit zu sprechen. Die Sätze kamen ganz leicht aus meinem Mund.
    Du nimmst den Glauben nicht ernst.
    Wenn du wirklich Jesus in dein Herz gelassen hättest, könntest du nicht mit einem Ungläubigen zusammen sein.
    Du bist kein Vorbild mehr für die Nicht-Christen.
    Du bist zu schwach.
    Ich hatte keinen Baseballschläger, ich hatte nur Worte. Aber jedes Wort saß. Jedes Wort war ein Schlag.
    Während ich Nadja den Sex verbieten wollte, dachte ich an Wladimir, mit dem ich mich nicht treffen durfte. Die Schwäche, die ich ihr austreiben wollte, trug ich selbst in mir. Es ging nicht um Nadja, es ging um den Westen, die Leere, die gefühlte Sinnlosigkeit des Systems, die ich versuchte, zu bekämpfen.
    Am Ende weinte Nadja, sie rannte aus dem Raum. Sie konnte es nicht mehr aushalten. Ich hatte gemischte Gefühle, sie tat mir leid, aber ich fühlte meine Stärke. Immer hatten die anderen geredet, jetzt redete ich. Die anderen Frauen sagten nichts. Ich wusste, dass sie auf meiner Seite standen. Ich war eine Soldatin, ich leistete Gottes Dienst.

In der Hölle
    Es war ein Dienstag im Juni 1996. Ein grauer Himmel hing über der Ostsee, am Morgen hatte es etwas geregnet. Die Luft war sauber und frisch. Ich stellte mich in die Schlange zur Fähre nach Helsinki, während Klaus sich umständlich von seinem Freund verabschiedete, der uns von Hamburg zum Ostseehafen Travemünde gebracht hatte. Klaus trug Jeans, Sweatshirt, Windjacke, ein unauffälliger 23-Jähriger. Alles an ihm wirkte eckig, sein Gesicht, seine Bewegungen, sein Blick. Er schien aus Schüchternheit zu bestehen.
    Ich mochte Klaus. Neben ihm fühlte ich mich weniger ungeschickt und plump.
    Von außen betrachtet hätten wir ein Paar sein können, auf dem Weg in den Sommerurlaub. Aber wir waren kein Paar, ich kannte ihn nur flüchtig aus der Gemeinde. Wir hatten eine Mission. Das Boot legte ab, die Häuser wurden kleiner, dann verschwanden sie ganz.
    Ich ließ die Welt, wie ich sie kannte, hinter mir zurück.
    Sieben Jahre waren seit der Wende vergangen. Die Geduld mit den Ostdeutschen wurde weniger. Die Ostdeutschen sollten »endlich

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