Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
Gegend gelebt hatte und die ihn im Grunde genommen gar nichts anging. Er war ein Fremder, er hatte nichts mit ihrer Familie zu tun und hielt sich nur alle Jubeljahre für kurze Zeit in den Ostfjorden auf. Er hatte zwar beinahe bis zu seiner Konfirmation hier gelebt, kannte aber die Menschen nicht mehr, hatte zu niemandem Kontakt gehalten und war erst als Erwachsener hierher zurückgekehrt. Sein ganzes Leben hatte sich in Reykjavík abgespielt, ob er wollte oder nicht.
Ein Teil seiner Geschichte und seines Lebens war jedoch für alle Zeiten mit diesem Landesteil verbunden, ein schicksalhaftes, gnadenloses Ereignis in seiner Jugend, das Zeugnis von unbarmherzigen Naturgewalten und Menschen ablegte, die ihnen ohnmächtig ausgeliefert waren.
»… ich interessiere mich für Menschen, die bei Unwettern um ihr Leben kämpfen mussten«, sagte er unumwunden.
Fünf
Die alte Dame war nun wie ausgewechselt. Sie fragte ihn nach seinem Namen, er stellte sich vor und erklärte, er sei nur für ein paar Tage in den Ostfjorden. Die Frau gab ihm die Hand, sagte ihm, dass ihr Name Hrund sei. Erlendur sah, wohin ihr Blick durchs Fenster ging, und er begriff, dass sie nicht ihn angestarrt oder auf ihn gewartet hatte, sondern sie verfolgte offenbar ganz genau mit, wie die überdimensionalen Strommasten in der Nähe des Ortes errichtet wurden, die den Strom über die Berge zum Aluminiumwerk leiten sollten, das etwas weiter fjordauswärts aus dem Boden gestampft wurde. Sie bot ihm an, Platz zu nehmen, und er ließ sich auf einem alten, knarrenden Sofa nieder. Die kleine zierliche Frau setzte sich auf einen Sessel ihm gegenüber. Es schien nun eine Art von Vertrautheit zwischen ihnen zu herrschen, und sie begann, ihm Fragen zu stellen. Er versuchte, ihr zu erklären, woher sein Interesse an den Schicksalen von Menschen rührte, die durch plötzliche Wetterstürze in Bergnot gerieten und dabei umkamen, aber nie gefunden wurden. Sie hörte ihm aufmerksam zu. Langsam, aber sicher tastete er sich zu dem schlimmen Unwetter im Januar 1942 vor, in dem Matthildur verschollen war und in dem auch die britischen Soldaten mit den Naturgewalten gekämpft hatten, einige vergeblich.
Hrunds Eltern waren Ende der Zwanzigerjahre von einem kleinen Hof im Skagafjörður nach Reyðarfjörður gezogen, sie hatten vier Töchter. Der Vater stammte aus den Ostfjorden und hatte den Hof eines Verwandten übernommen, verstand aber so gut wie nichts von Landwirtschaft und war Bóas zufolge ziemlich versoffen gewesen. Er starb wenige Jahre später infolge eines Unfalls. Hrunds Mutter hatte zunächst allein für ihre Töchter gesorgt und mit Unterstützung von hilfsbereiten Nachbarn den Hof wieder in Schwung gebracht. Sie heiratete einen Mann aus der Gegend und sorgte gut für ihre Töchter. Die beiden ältesten gingen nach Reykjavík, und Matthildur heiratete einen Seemann in Eskifjörður. Sie hatten bereits einige Jahre zusammengelebt, aber keine Kinder bekommen, und dann verschwand Matthildur eines Tages bei dem Unwetter spurlos. Hrund war die jüngste Tochter, sie hatte ebenfalls geheiratet und immer in Reyðarfjörður gelebt.
»Alle meine Schwestern sind tot«, erklärte sie. »Mit denen in Reykjavík hatte ich nur wenig Kontakt, und zwischen ihren Besuchen vergingen immer viele Jahre. Wir haben uns manchmal geschrieben, aber sonst war da nicht viel. Nur der Sohn meiner Schwester Ingunn kam als junger Mann wieder zurück in die Ostfjorde, er lebt jetzt in einem Seniorenheim in Egilsstaðir. Ich habe aber keine Verbindung zu ihm. An Matthildur habe ich nur gute Erinnerungen, ich war im Konfirmationsalter, als sie verschwand. Sie galt als die Hübscheste von uns, du weißt, was die Leute so reden. Vielleicht, weil sie so jung ums Leben kam. Es war ein schwerer Schlag für die Familie, das kannst du dir wahrscheinlich vorstellen.«
»Soweit ich weiß, hatte sie damals vor, ihre Mutter hier in Reyðarfjörður zu besuchen«, sagte Erlendur.
»Ja, das hat Jakob, ihr Mann, jedenfalls behauptet. Sie wurde von dem gleichen Unwetter überrascht wie die britischen Soldaten. Von denen hast du wahrscheinlich auch gehört?«
Erlendur nickte.
»Die Suche nach Matthildur blieb erfolglos, obwohl alles unternommen wurde, um sie zu finden, sowohl hier auf der Seite von Reyðarfjörður als auch drüben in Eskifjörður, von wo aus sie losgegangen war. Aber gefunden wurde sie nie.«
»Bei diesem Unwetter gab es gewaltige Mengen von Niederschlag«, sagte Erlendur. »Alle
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