Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
festem Griff und versuchen, mit ihm zu sprechen, ihm gut zuzureden und ihn zu beruhigen. Seine Mutter nimmt ihn in die Arme und erklärt ihm, dass viele Leute unterwegs sind, um nach seinem Bruder Bergur zu suchen, dass er bestimmt bald gefunden werden und alles wieder gut wird. Doch er will nichts davon hören, er beißt und kratzt und versucht, zu seinem Anorak und seinen Stiefeln zu kommen. Er schlägt wie wild um sich, als sie ihn daran hindern, nach draußen zu kommen. Zum Schluss bleibt dem Arzt nichts anderes übrig, als ihm ein Beruhigungsmittel zu geben.
»Kannst du uns etwas über Beggi sagen?«, fragt seine Mutter noch einmal, als er wieder im Bett liegt und nicht mehr die Kraft hat, sich zu wehren. »Es ist wichtig für uns, mein Junge.«
»Ich hatte Beggi an der Hand«, flüstert er. »Ich habe ihn so lange festgehalten, wie ich konnte. Und dann war er auf einmal nicht mehr bei mir. Ich war allein. Ich weiß nicht, was passiert ist.«
»Ist das lange her?«
Er spürt, dass seine Mutter sich bemüht, ruhig zu sein. Die Anspannung ist enorm. Zwei von drei Familienmitgliedern sind aus dem schrecklichen Unwetter lebend zurückgekehrt, und der Gedanke, dass Bergur nicht zurückkommen könnte, ist unerträglich.
»Ich weiß es nicht«, sagt er.
»War es noch hell?«
»Ja, ich glaube schon. Ich weiß es nicht. Mir war so kalt.«
»Weißt du, in was für eine Richtung ihr gegangen seid? Bergauf oder bergab?«
»Nein, das weiß ich nicht. Ich bin immer wieder hingefallen, um mich herum war alles weiß und ich konnte überhaupt nichts sehen. Ich kann mich noch erinnern, dass Papa gesagt hat, wir müssten sofort umkehren. Aber dann war er verschwunden.«
»Es ist mehr als vierundzwanzig Stunden her«, sagt seine Mutter. »Ich gehe jetzt wieder in die Berge, mein Junge. Da oben werden alle Leute gebraucht. Du musst dich ausruhen. Alles wird gut. Wir finden Beggi. Mach dir keine Sorgen.«
Das Medikament tut seine Wirkung, und die tröstenden Worte seiner Mutter beschwichtigen ihn ein wenig. Er schläft ein, und für ein paar Stunden weiß er von nichts. Als er wieder aufwacht, ist es rings um ihn seltsam still, ein beklemmendes Schweigen hat sich über das Haus gelegt. Er hat das Gefühl, aus einem langen, schweren Albtraum zu erwachen. Dann weiß er plötzlich, dass das nicht so ist, denn ihm steht nur allzu lebhaft vor Augen, was in den letzten beiden Tagen passiert ist. Als er aufsteht und über den Flur geht, ist er immer noch benommen von den Medikamenten. Die Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern ist geschlossen. Er öffnet sie, sein Vater ist allein im Zimmer und sitzt auf dem Bettrand. Er bemerkt seinen Sohn nicht, er sitzt nur bewegungslos da und starrt vor sich hin. Vielleicht schläft er. Es ist dunkel im Zimmer. Er weiß nichts darüber, wie sein Vater dem Unwetter entkam, wie er die letzten Meter auf allen vieren zurück nach Bakkasel gekrochen ist, mit Erfrierungen und ohne Mütze und wie von Sinnen nach dem Kampf gegen Schnee und Sturm.
»Suchst du nicht mit?«, fragt er.
Sein Vater antwortet ihm nicht, er starrt auf seine leblosen Hände. Er tritt näher heran, legt ihm eine Hand aufs Knie und wiederholt die Frage. Sein Vater scheint um Jahre gealtert zu sein. Die Falten in seinem Gesicht sind tiefer geworden. Der Glanz in seinen Augen ist erloschen, sie sind abwesend und kalt, sie schenken ihm keine Beachtung. Nie zuvor hat er seinen Vater so niedergeschlagen gesehen, so verzagt und einsam wie dort auf der Bettkante im dunklen Zimmer. Ängstlich und besorgt steht er vor ihm und versucht, sich mit armseligen Worten zu entschuldigen.
»Ich konnte nichts dafür«, flüstert er. »Ich konnte nichts machen.«
Sieben
Der alte Ezra saß in einem altersschwachen Holzschuppen, der auf abfallendem Gelände schräg unterhalb des Wohnhauses stand. Er klopfte Trockenfisch mit einem kurzstieligen Vorschlaghammer weich, als Erlendur eintraf.
Erlendur hatte zunächst ein paar Mal an die Haustür geklopft und war dann dem Geräusch der dumpfen Schläge nachgegangen, die aus dem Schuppen drangen, der irgendwann einmal aus Abfallholz zusammengezimmert und mit Wellblechplatten gedeckt worden war. An der Tür hing ein Stück Schnur, mit dem man sie festbinden konnte, doch als Erlendur dort eintraf, stand sie weit offen. Drinnen saß Ezra auf einem Hocker, den Hammer in der Hand. Mit der anderen Hand hielt er einen luftgetrockneten Schellfisch beim Schwanz gepackt, der auf einem Stein lag. Auf diesem Amboss
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