Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
holen.
Vier
Erlendur ging mit langsamen Schritten auf ein Haus in Reyðarfjörður zu. Er bemerkte eine Frau am Fenster, die ihn anstarrte. Es hatte ganz den Anschein, als hätte sie schon den ganzen Tag dort gesessen und auf ihn gewartet, obwohl er sich nicht angemeldet hatte. Er war sich auch nicht sicher, ob es richtig war, was er da tat. Sein Wissensdrang war aber stärker als der Zweifel.
Beim Abstieg aus den Bergen hatte Erlendur Bóas nach einer Geschichte gefragt, die er als Kind gehört hatte und die ihn seitdem nicht mehr losließ. Auch seine Eltern kannten die Geschichte, so wie seinerzeit die meisten anderen Leute in der Gegend. Vielleicht war diese Geschichte auch einer der Gründe dafür, dass er wieder in die Ostfjorde gekommen war.
»Du bist zur Polizei gegangen?«, hatte Bóas ihn gefragt. »Regelst du den Verkehr?«
»Ich war eine Zeit bei der Verkehrspolizei, aber das ist lange her«, hatte er geantwortet. »Ich weiß nicht, ob du schon davon gehört hast, aber heutzutage wird der Verkehr dort mit Ampeln geregelt.«
Bóas grinste. Er hatte sich den Fuchs über die Schulter geworfen, und seine Jacke war blutverschmiert, ebenso seine Hände, auch wenn er versucht hatte, sie im feuchten Moos abzuwischen. Er sei eigentlich davon ausgegangen, über Nacht in den Bergen bleiben zu müssen, sagte er, aber da alles so reibungslos geklappt hatte, war er der Meinung, dass sie die bewohnten Gebiete noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen könnten.
»Du hast dein Leben lang hier gewohnt, nicht wahr?«, fragte Erlendur.
»Ich habe nie davon geträumt, woanders hinzugehen«, antwortete der Fuchsjäger. »Es gibt keine besseren Menschen in ganz Island als hier.«
»Dann kennst du wohl auch die Geschichte von der Frau, die über die Irrlichtscharte nach Reyðarfjörður gehen wollte und dabei spurlos verschwand.«
»Ich glaube schon«, sagte Bóas.
»Sie hieß Matthildur«, sagte Erlendur. »Sie war allein unterwegs.«
»Ich weiß, wie sie hieß.«
Bóas blieb stehen und sah Erlendur an.
»Was hast du gesagt, was du da bei der Polizei machst?«
»Ich untersuche Kriminalfälle.«
»Was für Fälle?«
»Unterschiedlich. Schwere Verbrechen, Mord, Gewaltverbrechen.«
»Also den ganzen menschlichen Sumpf?«
»Man kann es so ausdrücken.«
»Auch Vermisstenfälle?«
»Ja.«
»Kommen sie häufig vor?«
»Nein, im Grunde genommen nicht.«
»Die Geschichte von Matthildur wird in Vergessenheit geraten, wenn wir Alten nicht mehr sind«, sagte Bóas.
»Ich habe sie zuerst in meinem Elternhaus gehört«, sagte Erlendur. »Meine Mutter kannte die Frau ein wenig, und ich fand die Geschichte immer …«
Er suchte nach dem richtigen Wort.
»Mysteriös«, schlug Bóas vor.
»Interessant«, sagte Erlendur.
Bóas legte seine Beute ab, richtete sich auf und blickte hinunter ins Tal, wo man durch den Nebel hindurch den Ort sehen konnte, der direkt am Fjord lag. Sie waren inzwischen fast wieder unten beim Urðarklettur angekommen. Es war wesentlich kühler und auch schon ziemlich dunkel geworden. Bóas warf sich das tote Tier wieder über die Schulter. Erlendur hatte ihm angeboten, es nach unten zu tragen, aber Bóas hatte das abgelehnt, er wollte nicht, dass sich noch andere mit Blut beschmierten.
»Du interessierst dich natürlich für so etwas Schreckliches«, sagte er und meinte damit die Vermisstenfälle.
Er sprach eher mit sich selbst und schwieg eine ganze Weile, bevor er weiterging, über Geröllhalden und Strauchheiden hinweg nach unten stieg.
»Du kennst dann sicher auch die Geschichte von den britischen Soldaten, die hier im Zweiten Weltkrieg in Bergnot geraten sind«, sagte er. »Sie gehörten zu den Besatzungstruppen in Reyðarfjörður.«
Erlendur sagte, dass er in seiner Jugend von diesen Ereignissen gehört und später nachgelesen habe, was damals passiert war, doch Bóas war nicht davon abzubringen, die ganze Geschichte noch einmal aufzurollen, denn er ließ sich keine Gelegenheit entgehen, eine gute Geschichte zu erzählen.
Ein Trupp von etwa sechzig Soldaten, alles junge Briten, wollte von Reyðarfjörður aus über die Irrlichtscharte nach Eskifjörður gehen, war dabei aber von einem Unwetter überrascht worden. Der Bergpass war stark vereist und unpassierbar gewesen, doch anstatt umzukehren, stiegen sie höher hinauf ins Tungudalur, von wo aus sie über die Eskifjarðarheiði absteigen wollten. Das alles geschah in der zweiten Januarhälfte. Unterwegs verschlechterte sich das
Weitere Kostenlose Bücher