Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
Flüsse waren enorm angeschwollen. Einen der englischen Soldaten, die damals umkamen, hatte die Eskifjarðará bis zum Meer mitgerissen.«
»Das war natürlich bekannt, und daher sind die Suchmannschaften auch die ganze Strandlinie abgegangen. Vielleicht wurde sie aber weiter ins Meer hinausgespült. Das haben wir immer für die wahrscheinlichste Erklärung gehalten.«
»Es wurde fast wie ein Wunder angesehen, dass so viele Soldaten überlebten«, sagte Erlendur. »Vielleicht glaubte man, mehr Barmherzigkeit könne man von den höheren Mächten nicht erwarten. Wusste eigentlich überhaupt jemand davon, dass sie sich auf den Weg nach Reyðarfjörður gemacht hatte? Ich meine, außer ihrem Ehemann?«
»Ich glaube nicht. Sie hatte niemandem etwas von ihrem Vorhaben erzählt.«
»Hat jemand gesehen, dass sie sich auf den Weg machte? Ist sie unterwegs noch irgendwo eingekehrt oder hat jemand beobachtet, wie sie sich an den Aufstieg zur Irrlichtscharte machte?«
»Jakob hat sie zuletzt gesehen, als sie sich von ihm verabschiedete. Er sagte, dass sie gut ausgerüstet gewesen sei, sie hatte Proviant mitgenommen und damit gerechnet, den ganzen Tag unterwegs zu sein. Und sie hatte sich früh genug auf den Weg gemacht, um rechtzeitig und noch im Hellen in Reyðarfjörður anzukommen. Deshalb war wahrscheinlich kaum jemand unterwegs, der sie hätte sehen können. Und sie hatte auch nicht vor, irgendwo haltzumachen.«
»Die Soldaten haben ausgesagt, dass sie ihr nicht begegnet sind.«
»Das stimmt.«
»Obwohl sie auf derselben Strecke unterwegs war wie sie.«
»Ja. Aber bei dem Wetter konnte man wohl kaum die Hand vor Augen sehen.«
»Und deine Mutter hatte überhaupt nicht mit ihr gerechnet?«
»Bóas hat dir anscheinend das ein oder andere erzählt.«
»Er hat mir nur aus seiner Sicht gesagt, was vorgefallen ist.«
»Jakob war …«
Hrund sah zu dem Fenster hinaus, an dem sie tagaus, tagein mit dem Fernglas zur Hand auf ihrem Kissen saß. Es wurde dunkel, und der Himmel wurde von der Flutlichtanlage auf der Baustelle des Aluminiumwerks erleuchtet. Ein rätselhaftes Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Diese modernen Zeiten sind schon sonderbar«, sagte sie, wie um das Thema zu wechseln. Sie begann, über diese sonderbaren Zeiten zu sprechen und über die Umwälzungen, mit denen sie nichts anfangen konnte, über diese Riesenbaustelle beim Aluminiumwerk, den Staudamm bei Kárahnjúkar mitten im Hochland, die Schlucht des Gletscherflusses, die man zerstört hatte, und den Stausee oberhalb, den größten von Menschenhand geschaffenen See in Island. Ihr war nicht anzuhören, dass sie alldem irgendetwas Positives abgewinnen konnte.
Erlendur musste unwillkürlich an das Gespräch denken, das er mit Bóas auf dem Weg ins Tal geführt hatte. Er hatte ihm von den Gerüchten erzählt, die aufgekommen waren und die mit den Menschen weiterlebten, die sich noch an Matthildurs Verschwinden erinnern konnten. Die meisten allerdings sahen inzwischen das Gras von unten wachsen oder waren steinalt und verwirrt, hatte Bóas gesagt.
»Jakob Ragnarson hatte es nicht leicht«, erklärte Hrund und kehrte damit zurück zu den Ereignissen in der Vergangenheit.
»Wieso nicht leicht?«, fragte Erlendur.
»Die Zeit verstrich, und verschiedene Geschichten kamen in Umlauf. Unter anderem die, dass Matthildur ihn in den wenigen Jahren, die er nach dem Unglück noch zu leben hatte, wie ein Spuk verfolgt habe. Was für ein Schwachsinn! Als wäre meine Schwester zu einem Geist, zu einer Wiedergängerin geworden.«
»Und wie habt ihr über das Ganze gedacht? Die Familie? Gab es einen Grund, Jakobs Version der Geschichte anzuzweifeln?«
»Hier wurde nie etwas untersucht«, entgegnete Hrund. »Aber weil sie nie gefunden wurde, kam natürlich der Verdacht auf, dass Jakob etwas zu verbergen hatte. Dass Matthildur vor ihm geflüchtet war, trotz des Unwetters. Dass sie niemals vorgehabt hatte, über die Berge nach Reyðarfjörður zu gehen und er sie einfach in das Unwetter hinausgetrieben hatte. Dieser Bóas hat dir das alles bestimmt ausführlich erzählt.«
Erlendur schüttelte den Kopf. »Davon hat er nichts erwähnt. Was ist eigentlich aus Jakob geworden? Kam er nicht bei einem Schiffbruch ums Leben?«
»Ja, er ist ertrunken und wurde in Djúpivogur begraben, ein paar Jahre nach Matthildurs Tod. Sein Boot kenterte in einem schrecklichen Sturm im Eskifjörður, sie waren zu zweit an Bord, und beide kamen um.«
»Und das war dann das Ende der
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