Eisfieber - Roman
die Vorhänge zurück. Doch ihre Hoffnung wurde enttäuscht: Weit und breit waren keine Streifenwagen mit blinkenden Lichtern zu sehen.
Sie starrte in Richtung Straße. Es wurde allmählich hell, und sie konnte erkennen, dass die Bäume am Waldrand voller Schnee waren. Von irgendwelchen Fahrzeugen war nichts zu sehen. Miranda war am Verzweifeln. Daisy würde sehr schnell spitzkriegen, dass auf dem Dachboden niemand war, und dann die anderen Räume im Obergeschoss durchsuchen. Ich brauche Zeit, dachte Miranda. Wann wird die Polizei endlich eintreffen?
Ich kann Daisy auf dem Dachboden einschließen! Vielleicht ist das eine realistische Alternative.
Sie verschwendete keinen Gedanken auf die möglichen Risiken, sondern rannte wieder in ihres Vaters Zimmer. Die Schranktür stand offen – Daisy war offenbar in der Dachkammer und suchte mit ihren dunkel umrandeten Augen, die aussahen wie von Fausthieben getroffen, nach einem Versteck, das groß genug für eine erwachsene, leicht übergewichtige Frau war.
Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, klappte Miranda die Schranktür zu.
Die Tür hatte kein Schloss, war jedoch aus solidem Holz. Wenn ich sie irgendwie verkeilen kann, dachte Miranda, wird Daisy Mühe haben, sie aufzubrechen, vor allem, weil sie sich in dem Schrank ja kaum rühren kann.
Unten an der Tür klaffte ein schmaler Spalt. Dort musste der Keil rein, und die Tür würde festklemmen, zumindest einige Sekunden lang. Was eignete sich dazu? Sie brauchte ein Stück Holz, eine feste Pappe oder wenigstens einen Stoß Papier. Miranda zog die Schublade an ihres Vaters Nachttisch auf und fand einen Band mit Werken von Marcel Proust.
Sie nahm das Buch heraus und begann, Seiten herauszureißen.
Kit hörte nebenan den Hund.
Es war ein lautes, aggressives Gebell von der Art, wie Nellie es nur anstimmte, wenn sich Fremde dem Haus näherten. Es kam also jemand. Kit schob sich durch die Schwingtür, die ins Esszimmer führte. Die Hündin stand auf den Hinterbeinen und hatte die Vorderpfoten aufs Fensterbrett gelegt.
Kit trat ans Fenster. Der Schneesturm hatte sich gelegt; es taumelten nur noch einige Flocken vom Himmel. Er blickte zum Wald hinüber. Zwischen den Bäumen tauchte ein großer Lastwagen auf. Er schob eine große Räumschaufel vor sich her, und auf dem Dach blinkte ein orangefarbenes Licht.
»Sie sind da!«, rief Kit.
Nigel kam herein. Der Hund knurrte, und Kit sagte: »Sei still!« Nellie verkroch sich wieder in eine Ecke. Nigel drückte sich flach an die Wand neben dem Fenster und spähte vorsichtig hinaus.
Der Schneepflug räumte eine Spur von annähernd drei Metern Breite frei. Er fuhr an der Haustür vorbei und so nahe wie möglich an die geparkten Wagen heran. Im letzten Moment wendete er und schob dabei den Schnee vor Hugos Mercedes und Mirandas Previa weg. Dann fuhr er rückwärts zur Garage und räumte auf dem betonierten Vorplatz zwei Streifen vor den Toren frei.
Unterdessen fuhr auf der vom Schnee befreiten Straße ein heller Jaguar S vorbei und hielt unmittelbar vor der Haustür. Eine große, schlanke Frau mit Bubikopffrisur in einer mit Schaffell gesäumten ledernen Fliegerjacke stieg aus. Im Scheinwerferlicht erkannte Kit Toni Gallo.
»Sieh zu, dass du sie so schnell wie möglich wieder loswirst!«, sagte Nigel.
»Was ist mit Daisy? Sie braucht ziemlich lange …«
»Sie wird sich wohl um deine Schwester kümmern.«
»Hoffentlich.«
»Ich traue Daisy mehr als dir. Geh jetzt an die Tür.«
Nigel zog sich zu Elton in die Stiefelkammer zurück.
Kit ging zur Vordertür und öffnete sie.
Toni half gerade jemandem, der auf dem Rücksitz gesessen hatte, beim Aussteigen. Kit runzelte die Stirn. Es war eine alte Dame in einem langen Wollmantel und mit einer Pelzmütze auf dem Kopf. »Was, zum Teufel …« Kit wusste nicht, was er davon halten sollte.
Toni nahm die alte Dame am Arm, und beide drehten sich um. Tonis Miene verdüsterte sich, als sie erkannte, wer ihnen die Tür geöffnet hatte. »Hallo, Kit«, sagte sie und führte die alte Frau zum Haus.
»Was wollen Sie denn hier?«, fragte Kit.
»Ich muss Ihren Vater sprechen. Es gibt einen Störfall im Labor.«
»Daddy schläft noch.«
»Für das, was ich ihm mitzuteilen habe, steht er garantiert auf.«
»Wer ist die alte Frau?«
»Diese Dame ist meine Mutter, Mrs. Kathleen Gallo.«
»Von wegen alte Frau«, sagte die alte Frau. »Ich bin einundsiebzig und fit wie ein Fleischerhund, also achten Sie auf Ihre Manieren, junger
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