Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)
ankam!” Die überschüssigen Figuren vercheckte der geschäftstüchtige Sohn an Klassenkameraden, Stück: drei Euro. “Bei einem Herstellungspreis von unter einem Cent”, lachte der Vater.
Der Regen prasselte, die Ansprache war zu Ende. Vater und Sohn machten sich auf den Heimweg, Hobbits gießen im Kinderzimmer.
Der Fluch des Truthahns
Aua! Der Eingang zur Junction Bar in der Gneisenaustraße ist verdammt niedrig. Wieder einmal ist Bruno Francheschini mit seiner Band als Tagestipp in der Zitty platziert worden. Titel des Abends: Pensieri in volo di tachino. Was so viel heißen soll wie: Gedanken beim Truthahnflug. Ich taumele in den hinteren Kellerraum an die Bar, und dann mit einem Bier zurück zur Bühne. Dort hat die Band auf leeren Bierkisten bereits ihre Gitarrenverstärker aufgebaut.
Bruno Francheschini erklimmt das Podest und greift zum Mikro. Klassische Besetzung: Piano, Kontrabass, E-Gitarre, Schlagzeuger mit Krawatte. Bruno ist nicht nur Liedermacher. Sondern auch Übersetzer. Nur seine Lieder übersetzt er nicht. Man sagt, er habe einen deutschen Großvater. Und eine Wohnung in Ostberlin, deren Heizung nicht funktioniert. Fast bei jeder neuen Ansage fügt er mit melancholischem Lächeln hinzu: “Aber das versteht ihr leider nicht …” Es sind traurige Texte über traurige Themen: Schlaflosigkeit, kalte Jahreszeiten, Plattenbauten, Berlusconi. Ein Abend in Moll. Tristezza.
Draußen, vor dem niedrigen Kellerfenster, wird es immer nebeliger. Aus dem Piano quellen Bluenotes, der Pianospieler mit seinen kurzen Haaren und dem blau-weiß gestreiften T-Shirt sieht aus, als hätte er auf der Kursk angeheuert. Gibt es eine melancholischere Mischung als amerikanischen Jazz, italienische Chansons und deutsches Publikum? Als die letzte Zugabe vorbei ist, zwänge ich mich über die enge Treppe hinaus und laufe in Richtung Yorckbrücken. Im Schaufenster eines Schnellimbisses drehen sich unendlich langsam Stangen mit gebratenen Hähnchen. Wo wird das alles enden? Pensieri in giro di pollo.
Schokologie
Goodbye, friesische Sommerfrische: Kurz hinter Hamburg fällt im ICE die Klimaanlage aus. Während kühle Meeresluft durch Ostelbien strömt, herrscht Beachparty-Atmosphäre im hermetisch abgeschlossenen Großraumwagen. Der Schaffner scheint am meisten zu schwitzen in seiner rotblauen Montur und fantasiert schon von mobilen Kaltgetränken, die außerplanmäßig zusteigen würden.
Eine Zeitlang fächere ich mir mit der DB-Kundenzeitschrift Luft zu. Dann halte ich es nicht mehr aus und verlasse den Waggon in Richtung Raucherabteil. Dort funktioniert die Klimaanlage, kein Wunder, sonst wären die Leute wohl längst erstickt. Asthmatisch hustend weiche ich zurück und setze mich im Verbindungsgang auf den Fußboden, neben eine Frau mit kurzen roten Haaren, die gerade mit einer weich gewordenen Tafel Rittersport kämpft. Sie kommt aus St. Pauli und arbeitet für eine Marketingfirma.
Während ich den restlichen Inhalt der quadratischen Packung aufesse, erzählt sie, in ihrer Firma gebe es einen klimatisierten Testraum, in dem ausprobiert wird, wie der Endverbraucher bei unterschiedlichen Temperaturen auf Gummibärchen, Cola oder Schokolade reagiert. Keine schlechte Idee in Zeiten des Klimawandels. Wir reden über Schokologie als Forschungsgebiet, schmelzende Polkappen, über den Einfluss von Haarspray aufs Wetter und die sozialhistorischen Hintergründe von 80er-Jahre-Frisuren. In Spandau steigt sie schließlich aus, und der ICE rumpelt weiter in Richtung Stadtmitte. In meinen Händen knistert eine leere Packung Rittersport Erdnuss Flakes, es ist die WM-Version mit den lachenden Fußballfans. Ich habe die Schokoforscherin gar nicht nach ihrem Namen gefragt.
Dänenknirschen
Vielleicht reicht es wirklich nicht aus, einfach nur Berlin zu verlassen. Viel wärmer ist es in Westdeutschland nicht, und brutalstmöglich gespart wird ja überall. Doch wohin soll man gehen!? In der Regionalbahn kurz hinter Frankfurt paukte Montagabend jemand dänische Vokabeln. Sah alternativ aus. Radtasche, Fahrradhelm, verwaschene Jeans. Ich dachte leicht melancholisch an meinen letzten Strandurlaub in Jütland, dann blickte ich auf einen schläfrigen Arbeiter im Blaumann, die Augen halb offen, die Tuborg-Dose leer, die Bild-Zeitung ausgelesen.
Draußen war alles schwarz. Feierabend. Der Zug hielt abrupt an einem schummrigen Vorortbahnsteig. Ein weiterer Pendler stieg ins Abteil, Anzug, lederner Aktenkoffer. Setzte sich, zog ein Buch
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