Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)
hatte eine donnernde Erkältung. Die japanischen Kollegen auf der Etage trugen schon Mundschutz.
Vielleicht hatte der Chef deswegen einen Luftkurort im Mittelgebirge gewählt. Die Zufahrtsstraße sah aus wie eine Landebahn, die man für eine Notlandung mit Löschschaum bedeckt hat. Unsere Projektgruppe “Kontingenz Management” war größtenteils wegen vereister Tragflächen in Tegel stecken geblieben. Doch der Chef hatte sich mit einem Range Rover hochgearbeitet, auf der Durchreise von Bologna nach Bergen. Die Tagesordnung war länger als die Verträge, mit denen wir in der Hauptstadt öffentliche Auftraggeber über den Tisch zogen, statt Wellness gab es Wodka und kaltes Buffet.
Auf der Rückfahrt saß ich im Auto des Chefs. Der ist nicht nur dafür bekannt, Kurven zu schneiden, sondern am Steuer einzuschlafen, wenn er keinen Beifahrer als Gesprächspartner hat. Also lauschte ich seinen Erzählungen, während wir die Serpentinen hinabrasten. Neben der Beifahrertür gähnten Abgründe, aber der Chef blieb wach, bis wir wieder auf Normalnull waren. Auf der Autobahn meinte er schließlich: “Manche glauben ja, Ayurveda hat was mit langem Leben zu tun, stimmt aber gar nicht! Es geht nur darum, gesund zu sein, solange man lebt …!” Dann musste er fürchterlich niesen, und der Wagen geriet ins Schleudern.
"Wie immer?"
Mehrmals im im Jahr kaufe ich in den Schönhauser-Allee-Arkaden eine Käptn-Blaubär-Wärmflasche. Trotz meines erheblichen Konsums von Käptn-Blaubär-Wärmflaschen hat die Apotheke dort die erstaunlich teuren und völlig unpraktischen Dinger allerdings bisher nicht billiger gemacht. Aber ich werde das Experiment trotz anders lautender makroökonomischer Theorien zum Thema Angebot und Nachfrage weiter fortsetzen. Natürlich habe ich mittlerweile schon alle meine Freunde und Verwandte flächendeckend mit Käptn-Blaubär-Wärmflaschen ausgerüstet.
In der ersten Etage der Allee- Arkaden ist auch eine Kiepert-Filiale. Meistens schenke ich den Wärmflaschenbesitzern einen Henning-Mankell-Krimi, am liebsten die “Hunde von Riga”. Herr Krähenburg, einer meiner Nachbarn aus dem Vorderhaus, hat einmal behauptet, wir Mieter im Hinterhaus wären nicht sehr beständig: immer neue Lebenspartner, immer wieder umziehen, keine festen Gewohnheiten.
Vielleicht hat er Recht . . . Routine kann wirklich nicht schaden. Und: Routine macht den Kopf frei für Beobachtungen, die einem sonst entgehen würden. Zum Beispiel: Donnerstags um halb acht ergattere ich im Reformhaus im Untergeschoss der Allee-Arkaden stets eines der letzten Vollkornbrote. Seit einiger Zeit habe ich dabei beobachtet, dass ein Mann mittleren Alters immer um dieselbe Zeit eine Packung Rice-Crispies kauft. Die Verkäuferin sagt mechanisch lächelnd “Einsneunundneunzig”, daraufhin reicht ihr der Mann wortlos ein Zweimarkstück rüber und hält ihr sein offenes Portemonnaie über den Tresen. Dann sagt die Verkäuferin reflexartig “Wie immer!” und lässt einen Pfennig Wechselgeld in die leere Geldbörse plumpsen: “Plopp”.
Hobbits gießen
Regen prasselte auf unsere Schirme, nur auf den roten Buttons mit der Zahl 35 lachte die Sonne. Vorne auf der Bühne hatte eben noch die “Müller-Westernhagen-Coverband” gespielt, jetzt begann die Ansprache eines Gewerkschafters, Thema Osterweiterung. Währenddessen erzählte mir D., seit Jahren IG-Metall-Jugendbildungssekretär, seine Version der Osterweiterung. Neulich hatte sich sein Sohn für 32 Euro einen Beutel mit “Herr der Ringe”-Zinnfiguren gekauft. Bald war er ziemlich enttäuscht darüber, wie wenig Figuren er für das gesparte Taschengeld bekam. “Tja: Produktionskosten sind fast gleich null, wird alles in Polen und Tschechien hergestellt, aber die Unterhaltungsmultis schlagen tausend Prozent drauf”, empörte sich der Vater.
Deswegen war er strikt dagegen, seinem Sohn Geld für neue Figuren zu geben: “Osterweiterung hin oder her – ich bin doch nicht blöd!” Stattdessen besann er sich auf seine Ausbildung als Metallfacharbeiter. Erst mit Knetgummi, dann mit Silikonkautschuk wurden Abdrücke der Figuren gegossen. Schon waren professionelle Gussformen fertig. “Wir produzieren die Dinger jetzt selbst!”, so der stolze Vater. “Auf dem Flohmarkt kaufen wir dafür alte Zinnteller, weit unterm Materialpreis.” Dann verwandelte sich das Kinderzimmer in eine Zinnfigurengießerei. “Da haben seine Freunde nicht schlecht gekuckt, als er plötzlich mit 120 Reitern von Rohan
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