Eisige Schatten
erhoben, um das Messer in ihren Körper zu rammen.
Sein Ärmel war zurückgerutscht und hatte sein Handgelenk freigegeben. Auf dessen Innenseite hatte sich eine sichtbare Narbe befunden.
Ben hatte keine solche Narbe.
Das war eine Erleichterung, die Cassie aber nicht aufmunterte. Sie fürchtete sich vor den kommenden Tagen. Obwohl Ben einiges an Feingefühl für die Tatsache gezeigt hatte, dass es für sie eine Belastung war und sein würde, könnte er niemals richtig verstehen, was es sie kostete.
Aber er hatte recht mit seiner Behauptung, wenn sie in Ryans Bluff bliebe, müsse sie ihnen helfen. Nicht nur, weil es ihre Pflicht war, zu helfen, wie ihre Mutter ihr seit ihrer Kindheit eingeschärft hatte, sondern weil damit zu rechnen war, dass sie zur Zielscheibe für den Mörder werden würde, und ihn aufzuhalten war die einzige Möglichkeit, ihr Leben zu retten.
Sie spürte die Versuchung, wegzulaufen. Mehr als nur die Versuchung. Aber er hatte ebenfalls recht mit seinem Hinweis, dass es überall Monster gebe. Außerdem hatte sie hier zum ersten Mal in ihrem Leben Frieden gefunden, und die Dankbarkeit dafür trieb sie dazu, ihnen zu helfen.
Wenn sie konnte. Wenn es irgendjemand konnte.
Cassie machte sich eine Tasse Tee und legte sich für eine Weile in die heiße Badewanne, ohne viel über irgendwas nachzudenken. Dann ging sie früh zu Bett und betete darum, nicht zu träumen.
Dieses Gebet blieb ungehört.
Oh, großer Gott, er hasste diese Träume!
Warum ließen sie ihn nicht in Ruhe?
Und die Stimmen.
Warum hörten sie nicht auf, mit ihm zu reden?
Er wollte nur schlafen. Er wollte sich nur ausruhen.
Warum brachten sie ihn dazu, diese Dinge zu tun?
Seine Hände rochen nach … Münzen. Seine Kleidung.
Sein Haar auch, glaubte er. Wie Münzen.
Wie Blut.
Schhhh. Keine Stimmen mehr.
Nicht heute Nacht.
Keine Träume mehr.
Er war so müde.
22. Februar 1999
Sheriff Dunbar war derjenige, der Cassie am nächsten Nachmittag abholte, und er sah darüber nicht glücklicher aus als sie.
»Ben wurde bei Gericht aufgehalten«, sagte er zur Begrüßung. »Er trifft sich mit uns bei Ivys Haus.«
»Verstehe.«
»Falls Sie bereit sind, natürlich.«
Cassie dachte, wenn er sich noch mehr Höflichkeiten abrang, würde sein Gesicht Risse bekommen. »Ich bin bereit. Muss nur noch abschließen.«
Fünf Minuten später saßen sie im Streifenwagen und fuhren in die Stadt. Und das Schweigen war drückend.
Trotz ihrer unbekümmerten Worte zu Ben war sich Cassie des Argwohns und Misstrauens des Sheriffs nur allzu bewusst. Sie hatte über die Jahre gute Beziehungen zu einer Reihe von Polizeibeamten aufgebaut, aber es stimmte, dass die erste Reaktion meist der des Sheriffs ähnelte, und das war für sie immer schwierig.
Am Anfang hatte es sie tief verstört, dass ihre erste Rolle bei einer Ermittlung unweigerlich die der Verdächtigen war. Starrköpfige und rationale Polizisten betrachteten ihre Beschreibungen von Verbrechen und Opfern als offensichtlichen Beweis, dass sie körperlich dabei gewesen war, und es war schwer, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Oft gelang es nur aufgrund hieb- und stichfester Beweise in Form von Alibis, die die Polizisten dazu brachten, ihr zwar nicht vollkommen zu vertrauen, aber wenigstens zu glauben, dass sie keine Mörderin war.
Was Matt Dunbar betraf, reichte ein vernünftiges Alibi für zumindest einen der Morde anscheinend nicht aus. Entweder das, oder …
»Sie glauben, ich führe Ben an der Nase herum, nicht wahr? Dass ich Sie beide an der Nase herumführe.«
»Ist mir schon in den Sinn gekommen«, erwiderte er kurz angebunden.
»Was hätte ich dabei zu gewinnen?«
Er warf ihr einen raschen Blick zu, und sein Lächeln war zynisch.
»Woher soll ich das wissen? Vielleicht sind Sie auf Ruhm aus. Oder es gefällt Ihnen, mit Menschen zu spielen.«
Cassie verspürte leichte Erheiterung. »Lassen Sie mich raten. Jemand hat Sie als Kind in eine Menge Wahrsagerbuden geschleppt, hab ich recht?«
»Nahe dran, aber noch kein Hauptgewinn. Sagen wir einfach, ich kannte ein paar Leute in meinem Leben, die von angeblichen Übersinnlichen schwer übers Ohr gehauen wurden.«
Ihre Erheiterung verebbte. »Das tut mir leid. Kein Wunder, dass Sie misstrauisch sind. Aber so bin ich nicht, Sheriff. Ich sitze nicht in einer Bude oder einem mit Samt ausgeschlagenen Zimmer und schaue in eine Kristallkugel. Ich erzähle den Leuten nicht, wie sie ihr Leben verbessern können, oder behaupte, einen
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