Eisige Schatten
einer siebten Tochter, aber das zweite Gesicht gab es in meiner Familie seit Generationen und wurde fast immer von der Mutter auf die Tochter vererbt.«
»Was ist mit den Söhnen?«
»In den letzten paar Generationen meines mütterlichen Zweigs hat es keine gegeben. Was davor war, weiß ich nicht genau. Laut den Familiengeschichten war es eine ausschließlich weibliche Gabe.«
Ben lächelte. »Vielleicht zum Ausgleich?«
»Die Jungs bekamen die Muskeln und die Mädchen das zweite Gesicht?« Cassie lächelte ebenfalls. »Mag sein.«
Er widmete sich wieder der Hand, legte eine saubere Gazekompresse auf die Wunde und fixierte sie mit einer Binde. »Und eine Tochter von Ihnen hätte dann diese Fähigkeit wahrscheinlich auch.«
»Nehme ich an«, sagte Cassie.
Mit mehr Widerstreben, als er zeigen oder sich selbst eingestehen wollte, ließ Ben ihre Hand los. »Fertig. Das war doch nicht so schlimm, oder?«
»Vielen Dank.«
»Keine Ursache.« Sein Ton blieb leicht. »Also, konnten Sie meine Gedanken lesen?«
Cassie antwortete nicht gleich, blickte auf ihre Hand und bewegte langsam die Finger. Dann schaute sie mit einem schwachen Stirnrunzeln auf. »Nein. Nein, konnte ich nicht.«
»Überhaupt nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Ein sehr … verschlossenes Buch.«
Zuerst war Ben ein wenig überrascht, fragte sich aber dann, ob er das hätte sein sollen. »Wie gesagt, Sie sind vermutlich zu müde, um heute Abend irgendwelche Gedanken zu lesen.«
Einen Augenblick lang schienen sich ihre Augen in seine zu bohren, und er spürte wieder diese Berührung, nach wie vor kühl, aber diesmal so fest, dass er beinahe den Kopf gesenkt hätte, um zu sehen, ob sie ihm die Hand auf die Brust gelegt hatte.
Dann lächelte Cassie ein wenig, und ihre Stimme klang gleichgültig. »Sie haben recht. Ich bin müde.«
»Ich werde gehen, damit Sie sich ausruhen können.«
Cassie widersprach nicht. Sie begleitete ihn zur Haustür. »Es wäre wohl gut, wenn ich mir morgen Mrs Jamesons Haus ansehe. Ich weiß nicht, ob ich in der Lage sein werde, etwas aufzufangen, aber ich sollte es versuchen.«
»Ich hole Sie ab – da Sie kein Auto haben. Am frühen Nachmittag?«
»Ja, gut.«
»In Ordnung. Schlafen Sie lange, okay? Versuchen Sie, sich zu erholen.«
»Das werde ich. Gute Nacht, Ben.«
»Bis morgen.«
Cassie sah ihm nach, bis er beim Jeep war, schloss dann die Tür, verriegelte sie und stellte die Alarmanlage an. Sie ging in die Küche zurück, verstaute den Erste-Hilfe-Kasten und spülte die benutzten Kaffeetassen aus, alles automatisch. Seit dem Frühstück hatte sie nichts gegessen, war aber nicht hungrig und hatte keine Lust, sich etwas zu kochen. Ihre Hand tat weh, doch das war ihre eigene Schuld. Sie hatte nicht geschmerzt, bis sie ihre Nägel in die Gaze gekrallt hatte, um die Wunde wieder zu öffnen und Bens Aufmerksamkeit darauf zu lenken.
Was auch nicht viel genützt hatte.
Sie hatte Ben nicht ernsthaft im Verdacht gehabt, der Mörder zu sein, war aber zu vielen nach außen hin ehrbaren Männern mit schwarzer Seele begegnet, um jemanden auszuschließen, zumindest nicht, bis sie in seinen Kopf gesehen hatte. Leider war es ihr bei ihm nicht gelungen – und das nicht, weil sie müde war.
Er hatte Mauern, solide und starke Mauern.
Die Art von Mauern, die nur wenige Nicht-Paragnosten je errichten mussten, außer sie hatten eine Art emotionales oder psychisches Trauma erlitten.
War das bei Ben der Fall? Verbarg dieser scheinbar so offene und ehrliche Mann eine geheime Verletzung oder ein Erlebnis, das ihn dazu gebracht hatte, auf den tiefsten Ebenen seiner selbst wachsam und vorsichtig zu sein? Nichts in seiner Herkunft deutete darauf hin, aber Cassie wusste nur zu gut, wie unzureichend öffentlich zugängliche Informationen über ein gelebtes Leben waren.
Die wahrscheinlichste Erklärung war, dass Bens Mauern von einer Verletzung oder bitteren Erfahrung aus seiner Vergangenheit herstammten. Auf solche Mauern war sie bisher nur bei Nicht-Paragnosten gestoßen, die sie aufgrund eines Traumas errichtet hatten, nicht um einen absichtlichen Schutzwall aufzubauen.
Er war kein Paragnost.
Er war auch nicht der Mörder.
Diese Gewissheit verdankte Cassie zum Teil ihrer telepathischen Fähigkeit. Das war ihr aufgegangen, als sie Ben dabei beobachtet hatte, wie er sanft ihre Hand untersuchte – die plötzliche Erinnerung an den Mörder, wie er über Jill Kirkwood gebeugt stand, die behandschuhte Hand
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