Eisige Schatten
ohne nachzudenken die Hand aus. »Lassen Sie mich mal …«
Sie trat einen Schritt zurück. »Nein. Nein, vielen Dank. Ich schaffe das schon allein.«
Ben zwang sich, still stehen zu bleiben. »Sie sind so müde, Cassie, dass ich ernsthaft bezweifle, ob Sie momentan Gedanken lesen könnten. Aber egal, ob es Ihnen möglich ist oder nicht, jemand muss sich diesen Schnitt ansehen. Ich oder ein Arzt, Sie haben die Wahl. Ich kann einen in einer halben Stunde hier draußen haben. Natürlich würde er vermutlich auf einer Tetanusspritze bestehen. Das tun sie für gewöhnlich. Besser ist besser, sagen sie. Wohingegen ich wohl nur frisches Antiseptikum auftragen und die Hand neu verbinden würde. Aber es ist Ihre Entscheidung.«
Cassie starrte ihn an. »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie manchmal sehr aufdringlich sein können?«
»Matt erwähnt das gern.« Ben lächelte. Sie lächelte ein bisschen zögernd zurück. Dann atmete sie tief durch und nahm sich sichtbar zusammen. »In Ordnung.«
Entschlossen, weder für sich noch für sie eine große Sache daraus zu machen, fragte Ben knapp: »Wo ist Ihr Erste-Hilfe-Kasten?«
»In dem Schränkchen neben der Hintertür.«
»Ich hole ihn. Setzen Sie sich an den Tisch und nehmen Sie schon mal den Verband ab, ja?«
Als er mit dem Kasten wiederkam, hatte sie die Gaze abgewickelt und einen langen, dünnen Schnitt über die Handfläche freigelegt, aus dem ein wenig Blut austrat.
»Komisch, dass ich es vorher gar nicht bemerkt hatte«, sagte Cassie. »Der Schnitt folgt genau meiner Schicksalslinie. Wenn ich abergläubisch wäre, würde ich mir deswegen vermutlich Sorgen machen.«
»Sind Sie etwa auch Wahrsagerin?«, fragte Ben leichthin, während er das Benötigte aus dem Erste-Hilfe-Kasten nahm.
»Die Zukunft konnte ich noch nie voraussagen. Das habe ich Ihnen doch erzählt, als wir uns kennenlernten. Aber meine Mutter konnte es, und mir wurde gesagt, dass Tante Alex es konnte.«
»Tatsächlich? Ich hatte ein paar merkwürdige Geschichten über sie gehört, dass sie Dinge wusste, die sie nicht hätte wissen sollen, hatte das aber als Gerüchte abgetan. Sie war so selten in der Stadt, und die meisten kannten sie nur vom Sehen.«
Cassie zuckte die Schultern. »Über das Ausmaß ihrer Fähigkeiten weiß ich nichts. Meine Mutter weigerte sich, über sie zu sprechen, und ihre eigenen Präkognitionsmomente waren dünn gesät.«
»Ihre Hauptfähigkeit glich also der Ihren? Die Fähigkeit, den Geist eines anderen Menschen anzuzapfen?«
»Ja.«
Als er meinte, dass es so weit wäre, sagte Ben: »Jetzt zeigen Sie mir mal die Hand.« Und fügte sofort hinzu: »Besitzen Sie denn auch eine sekundäre Fähigkeit?«
Cassies Zögern war fast unmerklich. Sie legte ihre Hand mit der Handfläche nach oben auf seine und erwiderte in gleichmäßigem Ton: »Wenn ja, habe ich sie noch nicht entdeckt. Aber ich habe auch nicht danach gesucht.«
Ben hielt ihre kühle Hand in seiner und ließ den Blick darauf ruhen, während er das frische Blut von der Wunde wischte, doch seine ganze Aufmerksamkeit galt praktisch ihrer Stimme, und sein Bewusstsein war erfüllt von dieser ersten körperlichen Berührung. »Warum haben Sie nicht danach gesucht? Hatten Sie Angst vor dem, was Sie entdecken könnten?«
»Sagen wir einfach, mit der primären Fähigkeit lässt sich schon schwer genug fertig werden. Ich möchte keine weitere.«
Ben nickte. »Ich glaube, der Schnitt ist nicht tief genug, um genäht werden zu müssen. Ich werde Antiseptikum auftragen und ihn neu verbinden. Sie sagten, Sie hätten sich an einem zerbrochenen Glas geschnitten?«
»Ja. Einem sauberen Glas. Also keine Gefahr durch Tetanus.«
Ben öffnete eine Tube mit Antiseptikum und trug die Salbe auf die Hand auf. Nicht bereit, ein längeres Schweigen entstehen zu lassen, sagte er: »Vorhin haben Sie Ihre Fähigkeit als ›das zweite Gesicht‹ bezeichnet. Das ist ein Ausdruck, den man früher dafür benutzt hat, nicht wahr?«
»Nehme ich an. In meiner Familie wurde es immer so genannt.«
Er blickte von ihrer Hand auf. »Immer?« Sie betrachtete ihn mit ungewöhnlich festem Blick, die Augen undurchdringlich und der Ausdruck ruhig. Er hatte keine Ahnung, ob sie seine Gedanken lesen konnte, und er spürte ihren Blick nicht so, wie er es manchmal tat. Lag es daran, dass sie ihn tatsächlich berührte?
Cassie nickte langsam. »Es war wie eine der Geschichten, die man manchmal in Romanen liest. Ich bin nicht die siebte Tochter
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