Eisige Schatten
vor, und dieser entsetzliche Angstknoten, den Gary immer hervorrief, lag ihr riesig und schwer im Magen.
Sie hatte Angst. Sie hasste es, Angst zu haben.
»Ich will Sie nicht verängstigen, Abby. Aber Sie müssen vorsichtig sein. Ich habe eine mögliche Zukunft für Sie gesehen, und sie ist nicht gut. Es besteht die Chance … ich sah, wie er Sie tötete, Abby. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, und ich weiß nicht, wer er ist, aber er war außer sich vor Wut, er fluchte und hatte seine Hände um Ihre Kehle geschlossen. «
»Wie bitte? Was sagen Sie da?«
»Es tut mir leid, es tut mir so leid. Sie müssen vorsichtig sein. Er ist ein Wahnsinniger, ist krank im Hirn, und er wird
Sie töten, außer …«
»Außer was?«
»Die Zukunft ist nicht statisch, Abby. Selbst Prophezeiungen müssen nicht immer so ausfallen, wie der Seher sie interpretiert. «
Das war Alexandra Meltons Warnung gewesen, mehr sagte sie nicht. Da Abby erst ein paar Tage zuvor ihren gewalttätigen Ehemann aus dem Haus geworfen hatte, war sie halbwegs davon überzeugt gewesen, dass es ihre eigene Furcht und Besorgtheit gewesen waren, welche die ältere Frau gespürt hatte, und dass die »Prophezeiung« daraus entstanden war.
Trotzdem war sie weiterhin wachsam geblieben, hatte sich vorgesehen. Angesichts von Garys Neigung zu Gewalttätigkeit war es ihr einleuchtend vorgekommen, dass Alexandra tatsächlich ein zukünftiges Ereignis gesehen hatte und der Wahnsinnige aus ihrer Vision sicherlich Gary sein würde.
Bis, wie Matt so unverblümt festgestellt hatte, ein Mörder begonnen hatte, Frauen abzuschlachten. Jetzt musste sie nicht nur wegen ihres Ex-Mannes wachsam sein, sondern praktisch auch wegen jedes anderen Mannes.
Das waren sicherlich keine beruhigenden Gedanken, mit denen Abby in dieser Nacht zu Bett ging. Und als Bryce sie mit flehendem Blick anschaute, erlaubte sie dem großen Hund, sich glücklich neben ihr auszustrecken.
Sie ließ ihre Hand die ganze Nacht auf ihm liegen.
26. Februar 1999
Cassie wachte am Morgen mit einem erwartungsvollen Gefühl auf. Sie blieb noch ein paar Minuten im Bett liegen, dachte nach, merkte an der Helligkeit im Zimmer, dass es über Nacht noch stärker geschneit hatte, verspürte aber keine Eile, aufzustehen und es sich anzuschauen. Ihr Schlaf war ungewöhnlich erholsam gewesen, traumlos, soweit sie sich erinnerte, und sie fühlte sich so gut wie seit langer, langer Zeit nicht. Der Abend mit Ben war eine Überraschung gewesen. Wie er bemerkt hatte, war sie in der Lage, ihren Schutz in seiner Gesellschaft zu vermindern, doch selbst während ihre »zusätzlichen« Sinne ruhten, waren die anderen fünf mit Macht erwacht. Sie war sich Bens übermäßig bewusst gewesen, seiner Stimme, seiner Bewegungen und Gesten, seines Lächelns.
Vor allem seines Lächelns.
Und sie war sich seltsam seiner Selbstwahrnehmung bewusst. Sie fand es merkwürdig, weil es für sie etwas vollkommen Neues war. Zuvor hatte sie immer entweder die Gedanken eines Mannes lesen können – wie die des Sheriffs –, oder sie konnte es nicht. Wenn sie es nicht konnte, hieß das, dass er für sie ein verschlossenes Buch war und nichts von sich preisgab, das nicht sichtbar war.
Vielleicht hatte Cassie wegen der gewalttätigen männlichen Gedanken, die sie während ihres gesamten Erwachsenenlebens immer wieder anzapfen musste, selten mehr als ein flüchtiges persönliches Interesse an irgendeinem Mann empfunden. Und selbst wenn sich die natürlichen Bedürfnisse und Triebe eines gesunden jungen weiblichen Körpers gezeigt hatten, war es ihr kaum schwergefallen, sie aus ihrem Bewusstsein zu verbannen.
Wenn die einzige sexuelle Erfahrung in grausamen geistigen Bildern unaussprechlicher Gewalt und von Entsetzen und Qualen begleitetem Tod lag, war es praktisch ein Reflex, auch nur die Möglichkeit einer Beziehung mit einem Mann zu vermeiden.
Daher wusste Cassie, wie gefährlich abgesondert und unerfahren sie war, wenn es um gesunde menschliche Gefühle ging, und lächerlich unwissend über die körperliche Seite einer normalen Beziehung zwischen Mann und Frau.
Ben fühlte sich zu ihr hingezogen, dessen war sie sich sicher. Sie wusste, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Instinkte, die sie kaum verstand, sagten ihr, dass die Anziehung stark war und sich steigerte und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis …
Bis was? Bis sie zusammen im Bett landeten? Bis sie sich ineinander verliebten? Bis er sie von den Füßen riss und mitnahm
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