Eisige Schatten
in ein absurdes emotionales Märchen, an das sie nicht mehr geglaubt hatte, seit sie acht Jahre alt war, und vermutlich nicht mal da?
Cassie warf die Decke zurück, setzte sich auf, und ihr bisheriges Gefühl glücklicher Erwartung verpuffte. Sie war, hielt sie sich vor, ein absoluter Idiot. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich unverhofft in der Gesellschaft eines gut aussehenden, sexuell anziehenden Mannes befunden, dessen Gedanken ihr verschlossen waren und der ihr etwas gezeigt hatte, was zweifellos nur ganz gewöhnliche, höfliche Aufmerksamkeit war, und sofort ging ihre Fantasie mit ihr durch.
Ben brauchte sie, um einen Wahnsinnigen zu fangen, der seine Stadt bedrohte, und das war der einzige Grund, warum er sie brauchte. Seine Hingabe für diese Stadt und deren Einwohner war stark, seine Abscheu vor dem geisteskranken Mörder sogar noch stärker, und in ihren Fähigkeiten lagen mögliche Werkzeuge für ihn, Erstere zu schützen und Letzteren zu vernichten.
Das war alles.
Nachdem sie zu diesem Schluss gekommen war, bemühte sich Cassie, nicht mehr daran zu denken. Nicht mehr an ihn zu denken. Sie stand auf, zog sich an, goss Kaffee auf, holte ihre Stiefel aus der Waschküche und nahm Max zu seinem Morgenspaziergang mit hinaus.
Der Schnee lag etwa zehn Zentimeter hoch, nicht so viel, dass das Laufen schwierig wurde, aber genug, um das vom Winter niedergedrückte Gras der Felder mit einer makellos weißen Decke zu überziehen. Die kahlen Äste der Hartholzbäume waren mit einer dünnen Schicht überzogen, während die für diesen Bundesstaat so typischen Kiefern unter dem Gewicht des Schnees zusammenzusacken schienen.
Cassie schaute dem fröhlich herumtobenden Max zu und hob den Blick dann zu den Bergen. Ryan’s Bluff schmiegte sich in ein Tal hoch an den Abhängen der Appalachians; normalerweise war der Anblick der Berge erfreulich und oft ein bisschen dunstverschleiert, doch heute waren das matte Grün und Braun mit Schnee bestäubt, und die kalte, klare Luft ließ die buckligen Formen näher erscheinen, als sie tatsächlich waren.
Als Cassie sie betrachtete, verebbte ihr erfreutes Lächeln. Zum ersten Mal empfand sie die Berge als bedrohlich, brütend über dem Tal und der Stadt mit einem fast böswilligen Starren.
Sie beobachteten sie.
Genau wie in Ivy Jamesons Küche spürte sie einen Druck auf der Brust, zuerst kaum merklich, dann immer stärker werdend. Die Kälte des Bodens schien in einer Welle durch ihre Stiefel hochzuschwappen und eiskalte Haut und zitternde Muskeln zu hinterlassen.
Die frische weiße Landschaft, die sie umgab, nahm eine schmutzig graue Färbung an, als sei Nebel aufgezogen, und ein dumpfes, dröhnendes Geräusch in ihren Ohren wurde immer lauter. Sie hatte das Gefühl, etwas würde mit flatternden Schwingen gegen sie schlagen, in sie einzudringen versuchen, und die Berührung war so eisig wie das Grab.
Die Gefühle waren so verstörend und unvertraut, dass Cassie nicht wusste, was sie tun sollte. Sie hatte Angst, ihren Schutzschild zu senken, sich zu öffnen und das, was sie da berührte, in ihren Kopf zu lassen. Aber wie besorgt und verängstigt sie auch war, die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass jede Abwehr gegen den Versuch, Kontakt mit ihr aufzunehmen, die Situation nur verlängern würde – und es ihr eventuell unmöglich machen würde, das Geschehen zu kontrollieren.
Wenn sie es überhaupt kontrollieren konnte.
Cassie atmete tief ein und langsam wieder aus, sah, wie der Atem vor ihrem Gesicht kondensierte. Dann schloss sie die Augen und öffnete sich dem, das ihre Aufmerksamkeit forderte.
Ben warf den Beweismittelbeutel auf Sheriff Dunbars Schreibtisch. »Cassie mag das ja nichts ausmachen, aber ich kann mit deinem Sinn für Humor wirklich nichts anfangen, Matt.«
»Wie bitte?« Matt blieb vollkommen höflich.
»Spiel hier nicht den Unschuldigen, das steht dir nicht. Dieses Stoffstück stammt von deiner alten Pfadfinderuniform.«
»Das hat sie also rausgekriegt, ja?«, sagte Matt, als Ben sich auf den Besucherstuhl fallen ließ.
»Hat sie. Sagte, der Stoff sei nur ein Beweis für deinen Sinn für Humor – den sie bisher bezweifelt hätte.«
Matt lächelte, runzelte dann aber rasch die Stirn, als Ben fortfuhr: »Sie sagte, es würde dich nicht überzeugen.« Ben beobachtete ihn. »Aber dass es dich wenigstens nachdenklich machen würde. Um Himmels willen, Matt, was brauchst du denn noch?«
Matt überhörte die Frage. »Die Sache mit den Münzen
Weitere Kostenlose Bücher