Eisige Schatten
irgendeine Art davon überzeugt gewesen, dass Ben, falls Cassie sich nicht von ihm fernhielt, sie zerstören würde.
»Verdammt, Alex, warum hast du es nicht erklärt?«, murmelte sie. Aber noch während sie die Worte aussprach, wusste Cassie die Antwort. Die Zukunft vorherzusagen war eine verzwickte Angelegenheit, und eine Paragnostin konnte mehr Schaden als Gutes damit anrichten, explizite Einzelheiten mitzuteilen, selbst wenn sie sich deren sicher war.
Präkognitive Visionen hüllten sich für gewöhnlich in eine Symbolik, deren Interpretation unsicher und die daraus geschlossenen Folgerungen riskant waren. Alex hätte mit absoluter Bestimmtheit wissen können, dass Ben Ryan die Fähigkeit oder das Potenzial besaß, ihre Nichte zu zerstören, ohne sich im Geringsten sicher zu sein, wie das geschehen könnte oder würde.
Daher war die einfachste und direkteste Warnung das Zuverlässigste. Halt dich von ihm fern. Er wird dich zerstören.
»Zu spät«, sagte Cassie zu ihrer Tante und zu sich selbst. »Was auch immer geschehen wird … wird geschehen.«
Dreitausend Meilen weit fortzurennen hatte daran nichts geändert. Diese Warnung würde nichts daran ändern.
Sie drehte den Kopf und blickte zu dem Karton voller Papiere, der seit Tagen auf einem Stuhl in der Nähe des Sofas stand und auf ihre Aufmerksamkeit wartete. Sie hatte die Aufgabe vor sich hergeschoben, genau wie das Lesen der Tagebücher ihrer Tante. Sie hatte sich, wann immer möglich, von der Persönlichkeit ihrer Tante ferngehalten, hatte es vorgezogen, nichts über die Frau zu erfahren, die nach einem erbitterten Streit nie wieder mit ihrer Schwester gesprochen hatte.
Alex Meltons Schweigen nach der Benachrichtigung über den Mord an ihrer Schwester hatte Cassie tief verletzt.
Und trotz ihrer eigenen Unwilligkeit, sich damit auseinanderzusetzen, wer Alexandra Melton gewesen war, hatte sich die Persönlichkeit ihrer Tante geweigert, ein Mysterium zu bleiben, da sie selbst Hinweise hinterlassen hatte und andere Menschen über sie gesprochen hatten. Beweise wie all die ungeöffneten Stickpackungen, die Alex bei Jill gekauft hatte, die Einkäufe offensichtlich als Ausrede für ihre Besuche, was auf eine überraschende Schüchternheit hinwies. Ihre Warnung an Abby, zögernd und besorgt, war für Cassie ein klarer Beweis sowohl für das Verantwortungsgefühl ihrer Tante als auch ihr Widerstreben, sich in das Leben anderer einzumischen.
Es hatte in den Monaten, die Cassie im Haus ihrer Tante verbrachte hatte, noch andere Anzeichen für deren Persönlichkeit gegeben. Von der Art, wie sie das Haus eingerichtet hatte, über die Bücher, die sie las, bis hin zu ihrer umfassenden Videofilmsammlung – eine Leidenschaft, die Cassie teilte – waren Alex Meltons’ Geschmack und Vorlieben allmählich in Cassies Wahrnehmung gesickert.
Und doch hatte sie nach wie vor keine Ahnung, worüber sich ihre Mutter und ihre Tante gestritten hatten. Sie hatte keine Ahnung, ob Alex ihr das Haus und das Grundstück nur vermacht hatte, weil sie die einzige Überlebende der Familie war, oder ob ein anderer Grund sie dazu bewogen hatte.
Und sie hatte keine Ahnung, wie sie eine spezifische und doch rätselhafte Warnung interpretieren sollte, die ihr aus dem Totenreich überbracht worden war.
Während sie auf den Karton voller Papiere blickte, in dem ein entscheidender Hinweis zum Verständnis der Warnung ihrer Tante stecken könnte, fragte sich Cassie, ob ihr Widerstreben, Alex Melton kennenzulernen, sich als folgenreicher erweisen mochte, als sie sich je hätte vorstellen können.
Sie stand vom Sofa auf, ging zum Kamin und blickte auf die Mitteilung und den Umschlag in ihrer Hand. Ihr Zögern währte nur kurz. Sie warf beides ins Feuer und sah zu, wie das Papier verbrannte.
Dann nahm sie sich den Karton vor und begann mit dem Versuch, ein Leben zu verstehen.
»Also gut«, sagte Larry Ramsay, als er die Mädchen in das Einkaufszentrum begleitete. »Wir sind da.« Er sprach mit dem leidenden Ton sich ausgenutzt fühlender Männer, die lieber etwas anderes tun würden, vorzugsweise an einem Motor herumbasteln.
»Ich bin dir wirklich dankbar, Larry«, flötete Sue und klimperte fast mit den Wimpern.
»Keine Ursache«, erwiderte er höflich.
»Ich muss mich halt unbedingt heute wegen dieses Softwareprogramms erkundigen, damit ich über das Wochenende an dem Projekt arbeiten kann. Also weiß ich das echt zu schätzen.«
Deanna unterdrückte ein Kichern. Obwohl Larry
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