Eisige Schatten
zerstören.
Alex
13
Es hätte ganz einfach sein sollen. Cassie hatte ihre Tante seit mehr als fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen oder mit ihr gesprochen; ja, sie konnte sich kaum noch an sie erinnern. Alex Melton hatte keine Geburtstags- oder Weihnachtskarten geschickt, und selbst die Benachrichtigung vom gewaltsamen Tod ihrer Schwester hatte sie nicht veranlasst, sich bei ihrer Nichte zu melden.
Nur nach Alex’ Tod hörte Cassie durch das Testament und jetzt durch diese Botschaft wieder von ihrer Tante.
Es hätte eine einfache Entscheidung sein sollen, diese »Warnung« zu missachten.
Doch das war es nicht.
Als Stimme aus dem Totenreich war die von Alex Melton so unheimlich und beängstigend, wie Cassie es sich nur hätte vorstellen können, und sosehr sie es auch wollte, sie konnte die Stimme nicht missachten.
Er wird dich zerstören.
Alex Melton hatte darauf bestanden, dass ihre Nichte diese Warnung unbedingt bekommen müsse, hatte ihr Anwalt gesagt – und er war kein Mann, der so etwas leichthin behaupten würde. Sie hatte dem so viel Bedeutung beigemessen, dass sie genaue Instruktionen hinterließ, wann die Warnung übergeben werden sollte. Nämlich am gleichen Tag, an dem Ben Ryan Cassie als möglicher Verbündeter in den Kopf gekommen war, um Sheriff Dunbar davon zu überzeugen, dass ein Mörder zuschlagen würde.
Wenn Cassie die Warnung an diesem Tag erhalten hätte … was dann? Sie nahm an, dass sie es sich eventuell überlegt hätte, zu ihm zu gehen. Sie wollte sich so ungern noch mal in eine Mordermittlung hineinziehen lassen, hatte gezögert, sich dem allen erneut auszusetzen. Es wäre nicht viel nötig gewesen, sie dazu zu bringen, sich in ihre ruhige, friedvolle Abgeschiedenheit zurückzuziehen. Das schlechte Gewissen besänftigt, weil sie schließlich versucht hatte, den Sheriff zu warnen.
Aber jetzt?
Zwei Wochen hatten so vieles verändert. Der Mörder hatte dreimal zugeschlagen, und sie wusste, dass er kurz davor stand, wieder zuzuschlagen. Der Sheriff war inzwischen bereit, auf sie zu hören, glaubte vielleicht sogar an das, was sie ihm berichten konnte, und das könnte eine ausschlaggebende Rolle spielen. Und sie war jetzt daran gebunden, war entschlossen, sich die größte Mühe zu geben, den Mörder zu fangen. Und da war Ben.
Ben, der sie wollte. Ben, der sie hatte Dinge fühlen lassen, die sie nie zuvor gefühlt hatte und die sie so bald wie möglich wieder fühlen wollte. Ben, der sie berühren konnte, ohne ihren Schutzschild zu bedrohen.
Er wird dich zerstören.
Ben sie zerstören? Wie?
Jemand, der mit Paragnosten und ihren Fähigkeiten nicht vertraut war, hätte sofort an den Mörder gedacht, der diese Stadt terrorisierte, und angenommen, dass entweder Ben der Mörder war oder ihre Beziehung zu ihm sie dem Mörder ausliefern würde.
Aber Cassie wusste, dass Ben nicht der Mörder war. Mehr noch, sie wusste, dass die Worte ihrer Tante wichtig waren. Wenn Alex den Tod ihrer Nichte vorausgesehen hätte, hätte sie dieses Wort benutzt. Aber das hatte sie nicht.
Er wird dich zerstören.
Nicht sie töten oder die Ursache dafür sein, dass sie getötet wurde. Sie zerstören. Und in diesem Wort lag eine Menge beängstigender Möglichkeiten. Denn es gab Schicksale, die schlimmer waren als der Tod. Viel schlimmer.
»Ich habe ihn nicht gesehen«, murmelte sie Max zu. »Als ich mein Schicksal sah, habe ich Ben nicht gesehen. Er wird nicht daran teilhaben, wird bestimmt nicht der Verursacher sein.«
Was sie gesehen hatte, war ein Mischmasch aus Bildern und Gefühlen, wodurch sie die Gewissheit bekommen hatte, dass die Fähigkeiten, mit denen sie seit ihrer Kindheit lebte, ihr Untergang sein würden. Dass sie sich durch das Stehlen der Schatten eines weiteren gefährlichen, wahnsinnigen Verstandes in der entsetzlichen, hungrigen Finsternis dieses wahnhaften Bewusstseins verlieren würde. Für immer.
Im Vergleich dazu wäre der Tod einfach – und bei Weitem vorzuziehen.
Er wird dich zerstören.
… dich zerstören.
… zerstören …
Cassie starrte lange Zeit auf die Botschaft, überflog die Worte wieder und wieder, während ihr Verstand mit allen daraus resultierenden Konsequenzen fertig zu werden versuchte. Ihr war kälter als am Morgen. Sie fühlte sich einsamer denn je.
Ihre Tante hatte sicherlich nicht befürchtet, dass Cassie das Herz gebrochen würde. Einen Liebhaber zurückzuweisen kann zwar destruktiv sein, ist aber selten zerstörend. Und trotzdem war Alex auf
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