Eisige Schatten
wollte. Er glaubte allmählich, dass er von Cassie besessen war, und das beunruhigte ihn stark. Er war immer in der Lage gewesen, Beziehungen leichtzunehmen, unbekümmert mit einem körperlichen Verlangen umzugehen, das seine Gefühle nie wirklich berührte, doch bei Cassie war das anders. Das körperliche Verlangen war da, sicherlich, wurde aber noch weit übertroffen von einem Gefühlsaufruhr, mit dem er kaum umgehen konnte.
Es war einfacher, das schlicht zu ignorieren, zumindest für den Augenblick.
Cassie begrüßte sie an der Haustür, den wachsamen Hund wie üblich an ihrer Seite. Sie lächelte schwach, und ihre Stimme war ruhig, aber Ben merkte sofort, dass sie weiter von ihm entfernt war als vor dem Gespräch, das sie am Morgen geführt hatten. Sie war in sich verschlossen, unnahbar, und als ihr Blick kurz auf ihm ruhte, spürte er keine warme Hand – oder auch nur eine kühle.
Plötzliche Bedenken? Oder lag es an etwas anderem?
Da Matt direkt hinter ihm das Wohnzimmer betrat, konnte Ben nicht nachfragen. Als er die ordentlichen Stapel auf dem Couchtisch sah und sich erinnerte, dass sie geplant hatte, die Papiere ihrer Tante durchzusehen, bemerkte er stattdessen: »Du warst beschäftigt.«
Cassie gab dem Hund leise den Befehl, sich hinzulegen, und er ließ sich auf einem Läufer vor dem Kamin nieder. Falls sie die Anspannung in Bens Stimme wahrgenommen hatte, war das ihrer gelassenen Antwort nicht anzumerken. »Ich fand, es sei an der Zeit, das hinter mich zu bringen. Ich habe sogar mit Tante Alex’ Tagebüchern angefangen.«
»Hat sie erwähnt, warum sie Abby solche Angst eingejagt hat?«, wollte Matt wissen.
Cassie sah ihn an. »Sie hat es Ihnen also erzählt.«
»Ja, hat sie.«
»Und?«
»Und was? Ob ich daran glaube, dass Ihre Tante die Zukunft gesehen hat? Nein. Ob ich glaube, dass Abby in Gefahr ist? Ja. Abgesehen von diesem Wahnsinnigen, der da draußen rumläuft, ist Gary Montgomery ein sadistischer Hurensohn, der davon überzeugt ist, dass Abby ihm gehört, und der durchaus fähig ist, ihr Gewalt anzutun, wenn sich die Möglichkeit ergibt.«
Ben warf ihm einen Blick zu, schwieg aber.
Cassie sagte: »Ich bin froh, dass sie es Ihnen erzählt hat. Was Tante Alex angeht – bisher bin ich noch nicht mal bei ihrem Umzug hierher angekommen. Das erste Tagebuch beginnt vor mehr als dreißig Jahren.«
»Blättern Sie vor«, riet ihr Matt.
»Tut mir leid, ich gehöre zu jenen Menschen, denen es physisch unmöglich ist, beim Lesen einer Geschichte vorzublättern.« Sie schüttelte den Kopf. »Außerdem bezweifle ich, dass sie in ihrem Tagebuch erklären wird, warum sie mit Abby gesprochen hat. Sie wollte sie nur warnen, Matt, mehr nicht. Weil sie dachte, Abby könne etwas unternehmen, um ihre Zukunft zu ändern, wenn sie wisse, was auf sie zukäme.«
Matts Kinn versteifte sich. »Vielleicht.«
Cassie ließen ihren Blick noch etwas auf ihm verweilen. »Der Kaffee ist heiß, wenn Sie beide also einen möchten …?«
Doch Matt schüttelte den Kopf, und auch Ben lehnte dankend ab.
»Na gut. Dann sollte ich wohl versuchen, den Mörder noch mal zu erreichen.«
Ben verspürte einen seltsamen Drang, dagegen zu protestieren. Ihm gefiel Cassies Distanziertheit nicht, und es gefiel ihm nicht, dass zu viele Menschen in der Stadt Alexandra Meltons Nichte verdächtigten, in die Ermittlungen einbezogen zu sein.
»Ich halte das für keine gute Idee«, sagte er.
Cassie bedeutete ihnen, Platz zu nehmen, und wählte für sich einen Sessel, der im rechten Winkel zum Sofa stand. »Warum nicht?«, fragte sie milde.
Ben schaute zu Matt, setzte sich dann auf die Sofaecke, die Cassie am nächsten war, während der Sheriff sich für den anderen Sessel entschied. »Weil die Leute anfangen zu reden, Cassie. Und sie kennen deinen Namen.«
Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht. »Tja, damit hatten wir gerechnet. Was umso mehr dafür spricht, dass ich es erneut versuche. Wenn er bisher noch nichts von mir weiß, wird das schon bald der Fall sein.«
Matt mischte sich ein: »Und wenn er von Ihnen erfährt? Wird er dann fähig sein, Sie … Sie abzublocken, wenn Sie versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen?«
Cassie zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. In der Vergangenheit hat es ein paar gegeben, die es spüren konnten, wenn ich versuchte, ihren Geist zu berühren, und einer oder zwei waren in der Lage, mich zumindest teilweise abzublocken. Wenn er von mir erfährt, könnte er das probieren – obwohl es fast
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