Eisige Umarmung (German Edition)
Zu seinen Füßen saßen zwei Wölfe. Ihrer Größe und ihrem Verhalten nach zu urteilen, waren es keine Gestaltwandler. Nicht zum ersten Mal sah er das Alphatier des Rudels an der Seite von wilden Wölfen. Gerüchteweise sahen sie Hawke ebenfalls als Leitwolf an – was Judd für sehr wahrscheinlich hielt. Manchmal war Hawke seinem Tier so nahe, dass man nicht mehr unterscheiden konnte, wer oder was einen aus diesen blassen Augen ansah.
Die Wölfe sahen Judd an, verhielten sich aber auch dann noch ruhig, als er näher kam. „Sie sind spät dran“, sagte Hawke.
„Ein paar Wölfe haben mich aufgehalten.“
Hawke nickte. „Die würden gern einen Umzug zu Ihren Ehren veranstalten, seit sie das von Drew erfahren haben.“
„Ich hoffe, Sie haben es ihnen verboten.“
„Ich habe mich noch nicht entschieden – vielleicht würde das die Laune Ihrer Nichte etwas heben.“
Darum ging es also bei diesem Treffen. „Was hat Sienna denn schon wieder angestellt?“
Die siebzehn Jahre alte Tochter seiner verstorbenen Schwester wandelte auf dünnem Eis. Als sie abtrünnig wurden, war Siennas Konditionierung fast abgeschlossen, daher war die Umstellung besonders schwierig für sie gewesen. Außerdem wurden ihre Fähigkeiten mit zunehmendem Alter immer problematischer. Und sie schien es sich neuerdings zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, Hawke so oft und auf so vielfältige Weise wie möglich vor den Kopf zu stoßen.
„Sie hat ein paar Jugendliche davon überzeugt, sie könnte ihre Gedanken lesen und ich würde ihr dafür Geld geben.“ Hawke machte ein finsteres Gesicht, aber seine Augen funkelten amüsiert. „Die Geschichten kommen mir schon zu den Ohren raus.“
„Ich werde mit ihr reden.“ Walker kümmerte sich um die beiden Kinder – seine Tochter Marlee und ihrer beider Neffen Toby. So war Judd die Sorge um Sienna zugefallen – er konnte mehr für sie tun als Walker, obwohl sie natürlich der Ansicht war, dass sie keinen Aufpasser brauchte.
Hawke winkte ab. „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich tue das schon selbst.“
In den ersten Monaten ihrer Abtrünnigkeit hätte Judd einen solchen Vorschlag abgelehnt. Aber er hatte gesehen, wie Hawke mit jugendlichen Wölfen umging, und wusste, Sienna würde keinen Schaden nehmen, selbst wenn Hawkes scharfe Worte sie verletzten. „Was ist dann der Grund für dieses Treffen?“
„Sie.“ Die scharfe Antwort ließ die Wölfe knurren. „Sie sind das Problem.“
„So viel also zu Ehrenumzügen.“ Judd zögerte. „Weiß das Rudel die genauen Einzelheiten?“
Hawke schüttelte sofort den Kopf. „Sie glauben, Sie hätten die Kugel irgendwie abgelenkt, und wir haben das Gerücht nach Kräften unterstützt.“
„Sehr gut.“ Seine neu entdeckten Fähigkeiten waren also immer noch ein taktischer Vorteil. „Was ist dann das Problem?“ Wenn der Leitwolf versuchen sollte, ihn von Brenna zu trennen, würde er kämpfen. Bis aufs Blut.
„Sie richten Chaos im Rudel an. Wie viele Zweikämpfe haben Sie bislang ausgefochten?“
„Soll ich Ihnen die genaue Zahl nennen?“ Seit er die Höhle zum ersten Mal betreten hatte, hatte er sich nicht gerade wenigen Herausforderern stellen müssen.
Hawke schnaubte. „Ich kenne die Zahlen. Und ich weiß auch, dass Sie jeden einzelnen Kampf gewonnen haben.“ Er ging in die Knie und streichelte die Wölfe. Sie knurrten und rieben ihre Köpfe an ihm, bevor sie im Wald verschwanden. Hawke richtete sich wieder auf. „Ich habe also einen mächtigen Mann im Rudel, der außerhalb der Hierarchie steht.“
Judd rief sich Indigos Verhalten und ein paar andere Vorkommnisse ins Gedächtnis. „Einige Ihrer Leute behandeln mich bereits, als hätte ich einen Rang.“
„Eben. Sie glauben, sie könnten Sie dadurch weich klopfen.“
„Damit ich was tue?“
„Sich dem Rudel ganz anschließen oder sich verpissen.“ Klare Alternativen. „Ich kann keinen Einzelgänger in meinem Territorium dulden.“
„Sie wollen mir einen offiziellen Rang verleihen?“ Jeder im Rudel hatte einen Rang. Zwei Möglichkeiten standen zur Verfügung, um die Rangfolge zu ändern: Man konnte kämpfen oder den Rang über ein kompliziertes System festlegen, das er noch nicht völlig durchschaut hatte – Fähigkeiten und Respekt spielten eine Rolle. Aber er hatte lange genug unter den Wölfen gelebt, um Vermutungen anstellen zu können. Lara hatte offensichtlich einen ähnlichen Rang wie Indigo, während Hawke jederzeit ein offenes Ohr für den alten Bibliothekar
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