Eisige Versuchung
Shade bis ins Mark. Sie keuchte und beobachtete fassungslos und gleichsam fasziniert, wie der Körper des Engels die Kugeln hinausstieß. Langsam schlossen sich die Einschusslöcher. Lediglich das trocknende Blut zeugte von seinen in Sekundenschnelle geheilten Verletzungen.
»Du lebst!« Sanft strich sie ihm eine Haarsträhne zurück, denn das Lederband in seinem Nacken war verrutscht.
»Nein, ich bin immer noch tot.«
Sie küsste seine Stirn. »Red keinen Unsinn!«
»Ich starb 1992 bei einem selbst verschuldeten Autounfall.« Seine Worte klangen erschreckend nüchtern in ihren Ohren.
Sie konnte nicht aufhören, ihn zu streicheln – seine Wangen, seine Oberarme und seine Brust –, weil sie ihn spüren wollte. »Aber du atmest, du bist warm und sprichst mit mir.«
»Nur weil mein Herr es so will.« Er tastete über seinen Bauch, wohl um zu prüfen, in welchem Zustand er sich befand. Noch immer schien er zu schwach, um sich aufzurichten. »Ich bin lediglich seine Marionette und hänge an seinen Strippen. Er hält mich durch seine überirdische Macht am Leben, damit ich meinen Auftrag erfülle.«
Über ihre Schulter hinweg schaute Shade zur Leiche des Sheriffs. »Dann wirst du jetzt Hartcourt in die Hölle bringen und nie wieder zurückkehren?« Diese Vorstellung machte sie fertig! Sie wollte nicht glauben, dass sie am Ende doch verlor. Sie blieb zwar am Leben, aber ohne Roque allein auf der Erde zurück.
»Nicht mit ihm.« Er atmete tief ein und sah sie eindringlich an. »Sondern mit dir.«
»Wie bitte?!« Ihr Gesicht flog vom Sheriff zu ihm herum.
»Er ist nicht mein Opfer. Du bist es. Ich konnte das bisher nur noch nicht klar erkennen, da du die Tötung, die dich für mich zeichnet, noch nicht begangen hattest.«
Ängstlich wich Shade vor ihm zurück, bis sie mit ihrem Rücken gegen das Podest und die Holztheke der Küche stieß. »Es war Notwehr!«
»Du hast ihn vorsätzlich erstochen. Kaltblütig. Du wolltest, dass er stirbt.« Mühsam richtete Roque seinen Oberkörper auf. Nicht dass er angeschossen worden war, schien ihm die Kraft zu rauben, sondern die Erkenntnis, wer seine Zielperson war.
»In dem Moment, ja«, gab sie schweren Herzens zu. »Aber nur weil ich glaubte, er hätte dich abgeknallt! Wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen. Es war eine Kurzschlussreaktion. Ich habe überreagiert.«
»Passiert ist passiert, und es war nicht deine erste Sünde. Der Eisige Lord hat nur das Recht, jemanden, der mehr als eine Schandtat begangen hat, in sein Reich zu holen, besagt der Pakt der zwei größten Mächte im Universum.« Roques Zähne knirschten so laut, dass sie es hören konnte. »Das war nicht dein erster Mord.«
Sie lehnte sich gegen den Tresen, schloss die Augen und rief sich – zum ersten Mal bewusst – Kid Boyd mit seinen roten Pausbacken und den hellblonden Locken in Erinnerung. Lachend war er, einen Kopf kleiner als Shade und ständig stolpernd, damals im Wald hinter ihr hergelaufen. Er konnte kaum mit ihr mithalten, so war es schon immer gewesen. Nach einer langen Regenphase schien endlich die Sonne. Die ersten Frühlingsboten – Krokusse und Knospen an Bäumen und Sträuchern – zeigten sich. Unbedarft, wie Kinder nun einmal waren, entfernten sie sich immer weiter von Bridgeport. Sie liefen zum Reservoir, kletterten den Mount Jackson ein Stück weit hinauf, bis sie außer Puste waren, und jagten Hasen hinterher. Sie hatten eine fantastische Zeit zusammen, doch der Nachmittag endete in einem Albtraum.
»Kein Mord«, brachte Shade leise hervor. »Trotzdem kam jemand um, und es war meine Schuld.«
Von all ihren Freunden war Shade am liebsten mit Kid zusammen gewesen. Obwohl sie beide sechs Jahre alt waren, schaute er zu ihr auf – und das nicht nur, weil er wie fünf aussah. Sie lief schneller als er, sie fand immer die Geschenke, die die Erwachsenen vor ihrem Geburtstag versteckt hatten, und ging schon zur Grundschule, während er die Vorschule besuchte. Er war nicht dümmer als sie, aber er brauchte mehr Zeit, um zu begreifen, weshalb die Kindergartenleiterin seinen Eltern nahegelegt hatte, ihn noch ein Jahr zurückzuhalten.
Er hatte sogar Angst vor Zecken gehabt, womit Shade ihn regelmäßig aufzog, wenn er mehrere Minuten brauchte, um seine Hose in die Stiefel zu stecken und die Kapuze seiner Jacke über den Kopf zu ziehen, als müsste er inkognito in den Wald gehen.
»Die machen tot«, sagte er dann und riss seine Augen so weit auf, dass Shade befürchtete, sie
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