Eisige Versuchung
könnten aus den Höhlen fallen.
Ungeduldig riss sie ihn am Ärmel mit sich, denn sie folgte sogar mutig den Spuren von Bären und Berglöwen. Sie war ohnehin noch nie einem begegnet und glaubte mittlerweile, dass die Erwachsenen die Abdrücke mit präparierten Tatzen in den Waldboden pressten, damit sie den Touristen wenigstens vermeintliche Beweise zeigen konnten.
Shade hatte ihre Freizeit am allerliebsten mit Kid verbracht, weil sie sich in seiner Gegenwart älter vorgekommen war. Wenn sie mit ihm zusammen war, fühlte sie sich genauso, wie wenn sie einen Frosch über die Sweetwater Road trug, damit er nicht überfahren wurde. Es ging ihr nicht um das Tier, sondern darum, dass sie sich danach gut fühlte. Größer, erwachsener, mutiger, weiser, all das und noch viel mehr.
Doch einmal hatte sie einen Frosch, den sie vor den Autos hatte retten wollen, in den Stausee geworfen, worauf er jämmerlich ertrank, weil er gar kein Wasserfrosch war. Das hätte sie warnen sollen, dass sie nicht halb so klug war, wie sie damals geglaubt hatte. Aber sie fischte ihn heraus, begrub ihn, sprach mit niemandem darüber und ließ sprichwörtlich Gras über die Sache wachsen.
An jenem frühlingshaften Nachmittag waren sie den Hang höher hinaufgestiegen, als sie eigentlich durften. Von dort oben konnten sie den Staudamm sehen. Die Flugzeuge, die vom Bryant-Field-Flughafen starteten, flogen über sie hinweg. Der Himmel war blau und die Luft klar, sie roch durch den anhaltenden Regen noch immer feucht. Zudem duftete es nach nasser Erde und nach Abenteuern, denn hier oben waren sie allein. Die Menschen im Tal sahen aus der Ferne aus wie Ameisen. Shade betrachtete sich selbst als die Erwachsene und die Anführerin von ihnen beiden. Sie rannte so wieselflink, dass Kid Mühe hatte nachzukommen. Immer wieder rutschte er aus. Er blieb mit den Füßen an Zweigen, die dicht über dem Boden wuchsen, hängen und hechelte wie ein Hund.
Als Shade an eine Spalte kam, die wohl der harte Winter in den Berg geschlagen hatte, hielt sie nicht an, sondern sprang darüber. Sie drehte sich um und feuerte Kid an, doch er blieb stehen und guckte ängstlich über den Rand in den Abgrund.
Sie legte ihre Hände wie einen Trichter an ihren Mund. »Angsthase!«
»Das geht so tief runter, dass ich den Grund nicht einmal sehen kann!« Er saugte seine Unterlippe ein und spähte erneut hinab.
»Die Spalte ist nicht größer als ein Kästchen bei Himmel und Hölle.«
»Bei dem Hüpfspiel bin ich immer der Erste, der rausfliegt, weil er auf eine Linie tritt. Meine Beine sind zu kurz.«
»Du konzentrierst dich nur nicht«, korrigierte Shade ihn. Sie bückte sich, riss eine Handvoll Moos aus und warf es nach ihm.
Kid versuchte, das Büschel abzuwehren, schlug aber vorbei, sodass es gegen seine Wange prallte und Erde in seinen Kragen rieselte.
»Memme! Jetzt komm schon!« Gelangweilt riss sie einige kleinere Äste ab. Sie lief ein Stück und hielt wieder an. »Sonst gehe ich ohne dich weiter. Du hältst mich sowieso immer auf.«
»Nein, warte auf mich!« Leise fügte er hinzu: »Bitte!«
»Dann komm endlich! Du bist ja schlimmer als die Heulsuse Tanya, die bei jeder Biene, die an ihr vorbeifliegt, wie am Spieß schreit. Im Schwimmkurs werde ich dem Lehrer sagen, er soll dich zu uns in die Mädchengruppe stecken. Das wird ganz schön peinlich für dich werden.«
Noch immer zögerte Kid. Rote Flecken tauchten an seinem Hals auf, ob vor Angst oder vor Wut, wusste sie nicht.
»Ich werde allen im Tal erzählen, dass du ein Feigling bist!« Shade machte eine lange Nase. »Beim nächsten Ausflug in die Wälder nehme ich Davy mit, der hat mehr drauf als du.«
Verärgert presste Kid seine Lippen aufeinander. Er ging ein Stück zurück und schaukelte eine ganze Weile mit seinem Körper vor und zurück, als würde er geistig Anlauf nehmen. Dabei hatte er seinen Blick fest auf den Spalt geheftet.
Als er endlich loslief, applaudierte Shade. Statt ihn jedoch anzuspornen, rief sie ihm Schmähworte zu. »Na endlich, du Jammerlappen! Gleich werden wir herausfinden, ob Zwerge fliegen können. Beim nächsten Mal werfe ich dich rüber, Weichling, das geht schneller!«
Am Rand des Abgrundes sprang er ab. Doch der Waldboden hatte sich vom vielen Regen mit Wasser vollgesogen wie ein Schwamm, daher gab er nach, und Kid rutschte aus.
Er fiel der Länge nach hin, über den Spalt wie eine Brücke, denn seine Beine waren nicht lang genug, um das rettende Ufer zu erreichen.
Seine
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