Eisige Versuchung
ab. Eisblumen wuchsen innen auf der Scheibe des Panoramafensters. Schneeflocken fielen aus dem Nichts herab. Shade nahm erstaunt wahr, dass kleine Wölkchen aus ihrem und Hartcourts Mund stoben, wenn sie ausatmeten, nicht jedoch bei Roque.
Ein übernatürliches Grauen ergriff sie und ließ sie vor dem Eisengel zurückweichen. Roque strahlte die gleiche Bedrohung aus wie im Bear’s den, er projizierte Angst auf alle, die sich im Raum befanden, aber er starrte weiterhin nur Earl Hartcourt an.
War er gekommen, um sie zu retten? Oder hatte er endlich erkannt, dass der Sheriff das Opfer war, das sein Herr ihm aufgetragen hatte, zu ihm zu bringen?
Shade zitterte aufgrund der plötzlichen Kälte im Haus, aber auch vor Furcht. »Er ist also doch deine Zielperson?«
»Nein.« Ohne den Blick vom Sheriff zu wenden, fragte er: »Ist noch jemand anders hier?«
Da Hartcourt nicht antwortete, sondern lediglich das Klappern seiner Zähne zu hören war, antwortete sie: »Nicht dass ich wüsste.«
»Hm«, machte der Engel und flatterte einige Male aufgeregt, sodass Blutstropfen umherflogen. »Das bedeutet wohl, dass er jeden Moment in meinen Fokus gerückt werden wird.«
Zuerst begriff Shade nicht, was er meinte. Als ihr ein Licht aufging, wurde ihr vor Aufregung speiübel. Roque deutete damit an, dass der Sheriff sie in den nächsten Minuten umbringen würde. Das Schicksal hatte beschlossen, sie zu seiner zweiten Leiche zu machen, und da er bereits eine Ausgeburt an Niederträchtigkeit war, stellte er den perfekten Kandidaten für das Reich des Eisigen Lords dar.
Entsetzt keuchte Shade.
Sie schaute auf die Pistole in Hartcourts Hand, die er zwar in die Richtung des Engels hielt, deren Lauf jedoch, abgelenkt von seiner Fassungslosigkeit, vielmehr auf den Boden zeigte und dann zu dem Messer, das hinter ihm in der Wand steckte. Sie wollte nicht sterben! Es dürstete sie so sehr nach Leben wie nie zuvor, weil sie sich verliebt hatte. Sie sehnte sich danach, mit Roque zusammen zu sein, ihn zu halten, zu spüren, mit ihm glücklich zu werden, mit ihm zu schlafen und neben ihm zu dösen, Haut an Haut. Aber wenn sie recht hatte, würden ihre Wege sich gleich endgültig trennen.
»Du wusstest gar nicht, dass ich mich in diesem Blockhaus befinde.« Es handelte sich um eine Feststellung, nicht um eine Frage. Er war offenbar nicht zu Shades Rettung gekommen. Konnte er dennoch ihre Ermordung in letzter Sekunde vereiteln, oder war das Schicksal stärker und mächtiger als ein einzelner Eisengel?
»Tut mir leid. Mein Auftrag führte mich zu Hartcourt. Aber ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dich hier heil herauszubringen.« Zum ersten Mal, seit Roque durch das Oberlicht gebrochen war, sah er sie an. Wärme trat in seine Augen.
Sofort spürte Shade, wie sich der übersinnliche schmerzhafte Griff um ihr Herz lockerte und ihr Puls langsamer schlug. Sie konnte endlich wieder frei durchatmen, ihr Brustkorb fühlte sich nicht länger an, als würde ein Koloss darauf hocken und ihr die Luft aus den Lungen pressen.
Leider ging es dem Sheriff genauso. Plötzlich hob er die Waffe an und zielte auf den Eisengel.
Blitzschnell griff Shade nach einem Kissen, das auf dem Sofa neben ihr lag, denn das Messer war zu weit weg. Ihr Herz trommelte laut. Ihre Bewegungen kamen ihr schleppend vor, als befände sie sich im Wasser. Das alles dauerte ihr viel zu lange. Es schien ihr, als würde sie in Zeitlupe mit dem Polster nach Hartcourts Arm schlagen. Als sie ihn traf, flog die Pistole in hohem Bogen fort. Gleichzeitig jedoch löste sich ein Schuss.
Shade schrie auf. Sie war zu träge gewesen! Ihr Kopf flog zu Roque herum. Glücklicherweise hatte die Kugel nur seinen Flügel getroffen. Blut lief über die Federn hinab. Der Eisengel verzog zwar sein Gesicht, aber mehr auch nicht.
Wütend brüllte Hartcourt und hechtete seinem Revolver hinterher.
Shade beugte sich vor und versuchte, ihn am Hemd zurückzuhalten, aber er riss sie mit sich.
Gefährlich spitze Eiszapfen flogen aus Roques Richtung an ihren Körpern vorbei. Die kleineren Stalaktiten zerschellten am Panoramafenster, ein größerer Eisspeer jedoch schoss durch die Scheibe hindurch und zerlegte sie in Splitter.
Unbeeindruckt warf Hartcourt sich auf seine Schusswaffe.
Shade stolperte halb über ihn und fiel ebenfalls. Ein gefrorenes Geschoss zerfetzte ihren Pullover und ritzte ihren Oberarm auf, aber sie spürte keinen Schmerz, ebenso wenig die Glasscherben, die sich in ihre
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