Eisiges Blut
hatte seinen Arm umklammert, und sie waren den gewundenen Weg entlanggegangen, vorbei an den Reihen dicker Eisenstangen, bis sie zum bekanntesten Ausstellungsstück gelangten.
Dem Bengalischen Tiger.
Sein Fell hatte ein seidig glänzendes Muster aus schwarzen, orangefarbenen und weißen Streifen. Auf einer Fläche, die kaum groß genug war, um sich umzudrehen, tappte der Tiger immer wieder hin und her. Eine große Zuschauermenge gaffte ihn aus nur wenigen Schritten Entfernung an, und mehrere Kinder zogen Grimassen, wann immer das Tier einen misstrauischen Blick in ihre Richtung warf. Eines von ihnen warf eine Eichel zwischen die Gitterstäbe und traf den Tiger an der Schnauze. Der Tiger brüllte, und die Kinder lachten und schlugen sich vor Entzücken gegenseitig auf die Schultern.
»Hört auf damit, auf der Stelle!«, sagte Eleanor und trat vor, um einem Knaben auf die Hand zu schlagen, der gerade eine weitere Eichel aufgesammelt hatte. Verblüfft drehte der Junge sich um, und seine verwahrlosten Freunde scharten sich um ihn, bis Sinclair ebenfalls vortrat.
»Verschwinde«, sagte er mit leiser, aber strenger Stimme, »oder ich werde
dich
in den Käfig werfen!«
Der Junge war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, seinen Freunden zu imponieren und dem Verlangen, seine Haut zu retten. Als Sinclair die Hand ausstreckte, um ihn am Kragen zu packen, entschied er sich für Letzteres und rannte davon. Doch sobald er in sicherer Entfernung war, blieb er stehen, um eine Eichel auf Sinclair zu schleudern und ihm ein paar freche Worte zuzurufen.
Sinclair wandte sich wieder zu Eleanor um, die den Tiger wie gebannt anstarrte. Dieser hatte seine endlose Wanderung unterbrochen und schien ihren Blick zu erwidern. Er wagte nicht zu sprechen, denn es war, als befänden Eleanor und der Tiger sich
im stummen Zwiegespräch. Länger als eine Minute sahen sie einander an, und ein älterer Zuschauer mit weißem Schnauzbart rief: »Die Dame ist ja geradezu hypnotisiert!« Als sie wieder Sinclairs Arm ergriff, schimmerte eine Träne in ihrem Auge.
Michael kam sich vor, als hätte er diese Szene bereits zu oft durchgespielt. Er versuchte, Murphy davon zu überzeugen, dass das Unmögliche möglich und das Undenkbare eingetreten war. Ein Frau war im Eis gefroren gefunden worden; Danzig war von einem seiner Hunde getötet worden, hatte anschließend Ackerley umgebracht und war erneut zurückgekehrt, um Darryl in der Tauchhütte anzugreifen. Der einzige Vorteil war, dass Murphy sich inzwischen so an diese seltsamen Besprechungen gewöhnt hatte, dass er aufgehört hatte, Michaels Aufrichtigkeit oder seine geistige Gesundheit in Frage zu stellen. Jetzt saß er hinter seinem Schreibtisch, strich mit den Fingern durch das dichte graumelierte Haar, das mit jedem Tag weißer zu werden schien, und stellte seine Fragen in einem resignierten, schon fast routinemäßigen Tonfall.
»Aber du bist sicher, dass du ihn dieses Mal erwischt hast, mit der Harpune?«, wollte er wissen.
»Ja«, entgegnete Michael. »Er ist hinüber, endgültig.« Aber war er wirklich so sicher, wie er gerade geklungen hatte?
»So oder so, bis auf weiteres wird niemand mehr zur Tauchhütte fahren. Sorg dafür, dass MrHirsch das kapiert, ohne Wenn und Aber!«
Im Radio hinter ihm knackte und rauschte es, dann ertönte eine schwache Stimme: »Windgeschwindigkeit 190 aus Nord-Nordwest, Temperatur zwischen minus vierzig und fünfzig Grad Celsius, voraussichtliche … « Es gab eine weitere atmosphärische Störung, dann kam die Stimme wieder: » … Hochdruckfront, die sich in südwestliche Richtung bewegt, von der chilenischen Halbinsel auf die Ross-See.«
»Hört sich an, als würden wir morgen eine Pause bekommen«, sagte Murphy, drehte sich in seinem Stuhl um und schaltete das Gerät aus. »Wird aber auch verdammt noch mal Zeit.« Dann wandte er sich wieder an Michael, mit einem Papierausdruck in der Hand. »Der Bericht von Dr.Barnes«, sagte er und setzte eine Brille auf, um laut daraus vorzulesen. »›Die Patientin Eleanor Ames, nach eigenen Angaben britische Staatbürgerin, ist schätzungsweise zwanzig Jahre alt.‹« Er hielt inne und blickte Michael über den Rand seiner Brille hinweg an. »›Ihr Zustand ist stabil, alle Vitalfunktionen sind regelmäßig. Es gibt noch Anzeichen einer rezidivierenden Hypotonie und von Herzrhythmusstörungen sowie eine extreme Anämie, die wir aktiv bekämpfen werden, sobald die vollständige Blutanalyse vorliegt.‹« Er ließ
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