Eisiges Blut
dass er das Gespenst seit einer Weile nicht mehr gesehen hatte, auch wenn dieser sich ständig abkapselte.
»Was hast du mit seiner Leiche gemacht?«, fragte Michael.
»Liegt im alten Fleischlager«, erwiderte Murphy. »Ich habe seine Mutter informiert; er wohnt noch bei ihr zu Hause in Wilmington. Ehrlich gesagt scheint sie nicht mehr ganz beieinander zu sein. Ich habe noch keinen offiziellen Bericht geschrieben, denn wenn ich es tue, so kurz nach der Sache mit Danzig, muss ich froh sein, wenn keine gottverdammte FBI -Delegation hier aufkreuzt, um zu ermitteln.« Eine plötzliche Windböe schüttelte das ganze Gebäude samt Fundament durch. »Ich habe Lawson gebeten, im botanischen Labor aufzuräumen und sauber zu machen. Vielleicht können wir retten, woran er zuletzt gearbeitet hat.«
Das klang nach einem guten, lobenswerten Entschluss, doch Michael fragte sich, ob irgendjemand hier wusste, wie man die Pflanzen am Leben erhielt, besonders die Orchideen mit ihren langen, zarten Stängeln. Alles in der Antarktis schien sich gegen das Überleben, gegen das Leben verschworen zu haben. Als er aufstand, um zu gehen, dachte er an das einzige Lebewesen, die einzige Person, die vom ewigen Eis sogar geschützt und in ihm bewahrt worden war.
»Vergiss nicht, was ich über die Ames gesagt habe«, rief Murphy ihm nach. »Fass sie mit Samthandschuhen an!«
Aufs Geratewohl steuerte Michael die Krankenstation an. Vielleicht war Eleanor ja wach und munter. Er wollte nicht den Eindruck eines aufdringlichen Verehrers erwecken, aber er konnte es kaum erwarten, ihre Geschichte zu erfahren. In seinem Rucksack steckten ein Notizblock, Stifte und sein handtellergroßer Rekorder. Er hatte überlegt, auch seine Kamera mitzunehmen, doch das wäre zu aufdringlich, und er fürchtete, sie dadurch zu beunruhigen. Die Bilder, beschloss er, konnten warten.
Er merkte jedoch, dass er nicht den besten Zeitpunkt erwischt hatte. Normalerweise stand die Tür zur Krankenstation offen, doch jetzt war sie geschlossen. Er klopfte an und hörte Charlotte
dahinter geschäftig hin und her laufen. »Ja?«, rief sie, »wer ist da?«
Er gab sich zu erkennen und die Tür öffnete sich gerade weit genug, damit er hindurchschlüpfen konnte. Charlotte trug ihren grünen OP -Kittel und sah gehetzt aus. Eleanor war nirgendwo zu sehen, sie lag hinten im Krankenzimmer.
»Ist sie wach?«
Charlotte seufzte, nickte jedoch.
»Alles in Ordnung?«
Charlotte legte den Kopf schief und sagte leise: »Wir haben ein paar … technische Probleme.«
»Was meinst du damit?«
»Psychische Anpassungsschwierigkeiten.«
Er hörte einen Schluchzer aus dem Krankenrevier.
»Es ist nicht wirklich überraschend«, sagte Charlotte, »angesichts der Umstände. Ich habe ihr noch ein weiteres leichtes Beruhigungsmittel gegeben, das sollte helfen.«
»Meinst du, es ist in Ordnung, wenn ich zu ihr gehe und mit ihr rede, ehe es anfängt zu wirken?«, flüsterte Michael.
Charlotte zuckte die Achseln. »Wer weiß – vielleicht tut ihr etwas Ablenkung ganz gut.« Doch als er auf das Krankenzimmer zuging, warnte sie: »Aber sag nichts, was sie aufregen könnte.«
Wie, fragte Michael sich, sollte er mit Eleanor Ames reden,
ohne
etwas zu erwähnen, das sie aufregen könnte?
Als er das Krankenzimmer betrat, stand Eleanor in einem flauschigen weißen Bademantel am schmalen Fenster und starrte hinaus. Der größte Teil des Glases war mit Schnee bedeckt und ließ nur einen schwachen Lichtschimmer hindurch. Als er eintrat, drehte sie schnell den Kopf herum. Sie wirkte verängstigt, scheu und offensichtlich auch ein wenig beschämt, dass er sie in dieser Aufmachung sah. Hastig zog sie den Bademantel enger um sich, dann blickte sie wieder aus dem Fenster.
»Nicht besonders viel zu sehen heute«, sagte Michael.
»Er ist dort draußen.«
Michael musste nicht fragen, von wem sie sprach.
»Er ist dort draußen und er ist ganz allein.«
Eine größtenteils unberührte Mahlzeit stand auf einem Tablett auf dem Nachttisch.
»Und er weiß noch nicht einmal, dass ich ihn nicht freiwillig verlassen habe.« Eleanor trug weiße Hausschuhe und wanderte darin auf und ab, die tränengefüllten Augen immer noch an das Fenster geheftet. Die Verwandlung war außerordentlich. Als Michael sie zuerst gesehen hatte, im Eis und später in der Kirche, hatte sie so fremdartig ausgesehen, als gehörte sie nicht in diese Zeit und diesen Ort. Es hatte nie irgendeinen Zweifel daran gegeben, dass er es mit einem
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