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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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Menschen zu tun hatte, von dem er durch eine unermessliche Kluft von Zeit und Erfahrung getrennt war.
    Aber jetzt, mit dem weißen Bademantel, dessen hochgeschlagener Kragen bis an ihr Gesicht reichte, den frisch gewaschenen Haaren, die ihr über die Schultern fielen, und den Pantoffeln, mit denen sie über den Linoleumboden schlurfte, sah sie aus wie jede andere hübsche junge Frau, die gerade aus dem Behandlungszimmer eines Nobel-Spas kam.
    »Er hat schon so viel überlebt«, sagte Michael und wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich bin sicher, er wird auch diesen Sturm überleben.«
    »Das war vorher.«
    »Bevor was?«
    »Bevor ich ihn verlassen habe.« Sie hielt ein Knäuel zusammengeknüllter Papiertaschentücher in der Hand und trocknete sich jetzt die Tränen damit.
    »Sie hatten keine andere Wahl«, sagte Michael. »Wie lange hätten Sie dort noch ausharren können? Sie mussten Hundefutter essen und Gesangbücher verbrennen, um es warm zu haben!«
    Hatte er zu unbedacht gesprochen? Er wollte sie trösten, aber ihre grünen Augen blitzten warnend auf.
    »Wir haben schon Schlimmeres durchgemacht als das. Schlimmeres, als Sie jemals wissen können. Schlimmer noch, als Sie es sich jemals ausmalen könnten.« Sie wandte sich ab, und ihre zarten Schultern bebten unter dem Frottee-Bademantel.
    Michael stellte seinen Rucksack auf den Boden und setzte sich auf einen Plastikstuhl in der Ecke. Wahrscheinlich wäre es das Vernünftigste, sie einfach allein zu lassen und später noch einmal wiederzukommen. Doch er hatte das Gefühl, dass sie trotz ihrer Trauer und Verwirrung nicht wollte, dass er ging. Oder wollte er nur, dass es so war? Es schien ihm, als fühlte sie sich durch seine Anwesenheit getröstet. In dieser künstlichen Umgebung, in die man sie verpflanzt hatte, vermittelte er ihr vielleicht einen Hauch von Vertrautheit.
    »Die Ärztin sagte mir, dass ich hier nicht fort dürfe«, sagte Eleanor mit ruhigerer Stimme.
    »Ganz bestimmt nicht hinaus in den Sturm«, versuchte Michael zu scherzen.
    »Sie sprach von diesem Zimmer.«
    Michael hatte gewusst, dass sie das gemeint hatte. »Das ist nur vorübergehend«, versicherte er ihr. »Wir wollen nicht, dass Sie sich anstecken, mit Keimen oder Bakterien, gegen die Sie womöglich nicht immun sind.«
    Eleanor lachte bitter auf. »Ich habe Soldaten gepflegt, die Malaria, Ruhr, Cholera und das Krimfieber hatten, mit dem ich mich schließlich selbst angesteckt habe.« Sie holte tief Luft. »Doch wie Sie sehen, habe ich alle Krankheiten überlebt.« Dann drehte sie sich zu ihm um und sagte, freundlicher diesmal: »Aber natürlich hat Miss Nightingale große Fortschritte auf diesem Gebiet gemacht. Wir haben angefangen, die Krankensäle im Lazarett zu lüften, selbst in der Nacht, um die üblen Ausdünstungen zu zerstreuen, die sich angesammelt hatten. Ich glaube, dass durch
Verbesserungen der Hygiene und der Ernährung unzählige Leben gerettet werden könnten. Man müsste nur die herrschenden Autoritäten davon überzeugen.«
    Es war die längste Rede, die er je von ihr gehört hatte. Sie schien von ihrer Redseligkeit ebenso überrascht zu sein, denn sie verstummte plötzlich und errötete leicht. Michael war klar, dass sie ihre Pflichten als Krankenschwester sehr ernst genommen hatte, obwohl er das schon vorher geahnt hatte.
    »Was erzähle ich da?«, murmelte sie. »Miss Nightingale ist schon lange tot. Und alles, was ich soeben gesagt habe, klingt gewiss furchtbar albern. Die Welt hat sich weiterentwickelt und ich rede hier von Dingen, von denen Sie schon längst wissen, ob sie sich als falsch oder richtig erwiesen haben. Bitte verzeihen Sie, ich habe mich selbst vergessen.«
    »Florence Nightingale hatte recht«, erklärte Michael, »genau wie Sie.« Er machte eine kurze Pause. »Sie werden nicht lange in dieser Unterkunft hier bleiben müssen. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.«
    Sie hatte bereits Kontakt zu ihm und den Keimen, die er mit sich herumtrug. Michael fragte sich, welchen Schaden es anrichten sollte, wenn sie noch mit weiteren in Berührung käme. Und was eine Begegnung mit anderen Mitarbeitern der Station anging, gleichgültig, ob Beakers oder Hiwis … nun, es gab vermutlich unzählige Möglichkeiten, ihnen aus dem Weg zu gehen. Point Adélie war nicht gerade der Hauptbahnhof von New York.
    Eleanor setzte sich auf die Bettkante und wandte Michael das Gesicht zu. Das Beruhigungsmittel schien langsam zu wirken, denn sie hatte aufgehört zu weinen

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