Eisiges Blut
reden. Doch es war noch seltsamer, wenn er an den grauenhaften erotischen Traum dachte, den er von ihr gehabt hatte. Es fiel ihm nicht leicht, ihr in die Augen zu schauen, so real hatte der Alptraum gewirkt.
Außerdem fürchtete er, dass die körperliche Nähe in dem winzigen Krankenrevier sie befangen machen könnte.
Über dem steifen Kragen ihres blauen Kleides konnte er die Venen an ihrem Hals pulsieren sehen. Sie blickte auf ihre Hände hinunter, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. Verstohlen schaute er auf ihre Finger, doch er entdeckte keinen Ehering.
»Ich sah Sie draußen«, sagte sie, »mit dem Vogel.«
»Das ist Ollie«, sagte er. »Benannt nach einem anderen Waisenkind, Oliver Twist.«
»Sie kennen die Bücher von Charles Dickens?«, fragte sie erstaunt.
»Um ehrlich zu sein, habe ich sie nie gelesen«, gab Michael zu. »Aber ich habe den Film gesehen.«
Verwirrung spiegelte sich auf ihrem Gesicht. Aber natürlich, dachte er …
den Film?
»Mein Vater war recht radikal in seinen Ansichten«, sagte sie. »Er gestattete mir, so oft es ging die Schule zu besuchen und sogar regelmäßig ins Pfarrhaus zu gehen, wo es eine Bibliothek gab.«
Ihre Augen, dachte er, waren so grün und glänzend wie die Nadeln einer Fichte nach einem Regenschauer.
»Sie müssen an die zweihundert Bücher dort gehabt haben«, erzählte sie stolz.
Was, überlegte er, würde sie wohl von einer der riesigen Buchhandlungen in der Stadt halten?
»Ich hätte Ihnen zu gern Gesellschaft geleistet«, sagte sie mit einem Anflug von Traurigkeit.
»Wann?«
»Als Sie Ollie gefüttert haben.«
Er wollte gerade fragen, warum sie nicht einfach herausgekommen sei, als ihm einfiel, dass sie faktisch eine Gefangene war. Ihre nervöse Blässe zeigte es. Er sah sich im Raum um, es gab nicht mal ein Buch oder eine Zeitschrift.
»Vielleicht können wir uns später heute Abend noch einmal
in den Gemeinschaftsraum schleichen«, sagte er, »und Sie können wieder auf dem Klavier spielen.«
»Das würde mir sehr gefallen«, sagte sie, aber mit weniger Begeisterung, als er erwartet hätte.
»Was würde Ihnen noch gefallen?«, fragte er. »Ich könnte Ihnen sicherlich etwas anständigen Lesestoff besorgen.«
Sie zögerte, aber dann beugte sie sich ein kleines Stück vor und sagte: »Soll ich Ihnen sagen, was mir wirklich gefallen würde? Wofür ich alles geben würde?«
Er wartete und fürchtete, es könnte etwas mit Sinclair zu tun haben. Wie lange konnte er das Geheimnis für sich behalten?
»Ich würde gerne draußen spazieren gehen, egal wie kalt es ist, und mein Gesicht in die Sonne halten. Nur auf meinem Ausflug zur Walfangstation habe ich eine kurze Kostprobe davon bekommen. Mehr als alles andere möchte ich die Sonne sehen und sie wieder auf meinem Gesicht spüren.«
»Sonne haben wir genug«, gab Michael zu, »aber sie ist nicht besonders warm.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Und ist es nicht seltsam? Wir sind an einem Ort, an dem die Sonne niemals untergeht, doch sie spendet so wenig Wärme.«
Michael blieb ganz still sitzen und dachte darüber nach, was sie gesagt hatte. Im Kopf wälzte er eine absonderliche Idee hin und her, die ihm gerade gekommen war. Die Konsequenzen, wenn er erwischt würde, wären schlimm, und Murphy würde ihm bei lebendigem Leib die Haut abziehen. Aber der Gedanke versetzte ihn in so freudige Erregung, dass er nicht widerstehen konnte. Wie würde Eleanor reagieren?
»Wenn ich verspreche, Ihnen diesen Wunsch zu erfüllen«, sagte er vorsichtig, »wären Sie dann bereit, meine Anweisungen haargenau zu befolgen?«
Verwirrt sah Eleanor ihn an. »Können Sie mich nach draußen schmuggeln?«
»Der Teil ist nicht weiter schwer.«
»Und die Sonne warm scheinen lassen, selbst an einem Ort wie diesem?«
Michael nickte. »Ob Sie es glauben oder nicht, das kann ich.« Er hatte sich schon gefragt, was für ein Weihnachtsgeschenk er ihr am nächsten Morgen überreichen sollte. Jetzt wusste er es.
»Aha«, sagte Charlotte und blickte in das Aquarium, in dem mehrere tote Fische in verschiedenen Abteilen trieben. »Du hast also ein paar tote Fische.«
»Nein, nein, nicht die da«, sagte Darryl. »Das sind die Fehlschläge. Schau dir den
Cryothenia hirschii
und die anderen Frostschutz-Fische an, die es sich auf dem Boden des Beckens gemütlich gemacht haben.«
Charlotte streckte den Hals vor und entdeckte die blassen, fast durchsichtigen Fische. Sie waren beinahe dreißig Zentimeter lang, und die Kiemen
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