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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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entsetzliche Durst, sie wieder überkäme? Und er würde kommen, sie wusste es. Manchmal hielt sie es Tage, vielleicht sogar eine Woche ohne aus, doch je länger sie wartete, desto drängender wurde der Durst, und desto stärker wurde sie, auch gegen ihren eigenen Willen, getrieben, ihn zu stillen.
    Wie könnte sie so eine Begierde jemals gestehen? Wem sollte sie sich je anvertrauen?
    Sie starrte aus dem Fenster ihres winzigen Zimmers auf den eiskalten Platz mit dem Fahnenmast in der Mitte. Ein großer Mann mit einem unförmigen Kapuzenmantel stand dort, blickte in den bleiernen Himmel und hielt mit den behandschuhten Händen etwas in die Höhe, das wie mehrere Streifen Schinken aussah.
    Obwohl es schwierig war, irgendjemanden zu erkennen, mit den dicken Mänteln, Mützen und Stiefeln, wusste sie intuitiv, dass es Michael war.
    Trotz des Heulens des ständigen Windes hörte sie ihn laut pfeifen. Er blickte immer noch nach oben, und nach kurzer Zeit tauchte ein Vogel auf. Vielleicht hatte er auf dem Dach der Krankenstation gesessen. Das Federkleid war schmutzig-grau, er hatte einen gekrümmten Schnabel und schoss direkt auf Michaels Kopf zu. Michael duckte sich und der Vogel streifte den Rand der Kapuze. Sie hörte ihn lachen, und erst jetzt fiel ihr auf, wie lange es her war, dass sie jemanden auf diese Weise hatte lachen hören. Es war zugleich das fremdeste und angenehmste Geräusch, das sie seit Jahren gehört hatte. Sie sehnte sich danach, hinauszulaufen in den Schnee und das Eis, und dabei zu sein. Sie wollte auch über den räuberischen Vogel lachen, ihr Gesicht der Sonne entgegenstrecken und die Wärme auf ihren Lidern spüren, auch wenn nur hin und wieder ein paar Strahlen durch die Wolkendecke drangen.
    Während sie weiter zusah, richtete Michael sich wieder auf und schwenkte den Schinken in der Luft. Als der Vogel kehrtmachte, warf er das Fleisch hoch in die Luft. Die Streifen lösten sich voneinander, der Vogel fing einen der Leckerbissen mit dem Schnabel auf und flog davon. Die anderen Streifen landeten auf dem festgestampften Schnee, und Michael wartete einfach, klugerweise, wie ihr schien, dass der Vogel zurückkäme. Und tatsächlich, mit einem uneleganten Plumps landete das Tier auf dem Boden, watschelte von einem Schinkenstreifen zum nächsten und verschlang sie. Ein weiterer Vogel, größer und mit braunem Gefieder, kam dazu, doch der erste rannte kreischend auf ihn zu, und Michael warf sogar einen Schneeball nach dem Tier, um es zu verjagen. Aha, dachte Eleanor, der dunkle Vogel ist sein Liebling. Sein Schoßtier.
    Jetzt hockte er sich hin und streckte eine Hand, die im Fäustling steckte, aus. Der Vogel kam auf ihn zu. Er pickte an dem Handschuh, und obwohl sie es nicht erkennen konnte, vermutete sie, dass Michael etwas von dem Schinken zurückbehalten haben
musste. Die beiden verharrten dort wie zwei alte Freunde, die sich gut verstanden. Der Wind zerzauste die Federn des Vogels und zerrte am Ärmel von Michaels Mantel, bis es aussah, als würde er aus winzigen Wellen bestehen, doch die beiden hockten immer noch da. Unvermittelt fühlte Eleanor sich so überwältigt, dass sie nicht länger zuschauen konnte.
    Es kam ihr vor, als sei ihr ganzes Leben ein einziges Gefängnis, und sie ließ sich auf die Bettkante fallen wie eine Verdammte.
    Als es an der Tür klopfte, fürchtete sie, es wäre Dr.Barnes, die sie wegen ihres Verbrechens zur Rede stellen wollte. Sie antwortete nicht, doch als noch einmal geklopft wurde, sagte sie schließlich: »Herein.«
    Die Tür wurde halb geöffnet, und Michael steckte den Kopf herein. Die Kapuze hatte er ein Stück zurückgeschoben. »Gestatten Sie mir, dass ich Sie besuche?«, sagte er, und Eleanor erwiderte: »Erlaubnis erteilt, Sir.« Sie fühlte sich, als hätte man ihr eine Gnadenfrist gewährt. »Aber ich fürchte, außer einem Stuhl kann ich Ihnen nur wenig anbieten.«
    »Das reicht vollkommen«, sagte Michael, drehte den Stuhl um und setzte sich rittlings darauf. Sein sperriger Mantel hing auf der anderen Seite herunter, und weil der Raum so klein war, war er nur wenige Schritte von ihr entfernt. Er war sogar so nah, dass sie die erfrischend kühle Luft spürte, die von seinem Mantel und seinen Stiefeln abstrahlte. Sie sehnte sich danach, frei zu sein.
     
    Michael ließ sich ein paar Sekunden Zeit, um seinen Mantel auszuziehen und seine Gedanken zu sammeln. Es war schon schwierig genug, unter solchen merkwürdigen Umständen wie diesen mit jemandem zu

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