Eisiges Herz
zu ihr gestanden hast, obwohl sie so verrückt war.«
»Sie war viel mehr als das, Kelly.«
»Das weiß ich, aber was hast du nicht alles durchgemacht! Du musstest dich dauernd um mich kümmern, als ich noch klein war – du hast mich praktisch allein großgezogen. Und was du dir alles von ihr hast gefallen lassen! Ich weiß noch, wie du einmal, als wir noch in Toronto wohnten, diesen total komplizierten Schrank gebaut hast mit all den Schubladen und kleinen Türen. Ich glaube, du hast ungefähr ein Jahr lang daran gearbeitet, und dann kommst du eines Tages nach Hause, und sie hat ihn kurz und klein geschlagen, weil sie Brennholz brauchte! Sie hat irgendwas gefaselt von Feuer und kreativer Zerstörung, was überhaupt keinen Sinn ergab, und sie hat diesen Schrank kaputtgemacht, den du so liebevoll gebaut hattest. Wie kann man jemandem so was bloß verzeihen?«
Cardinal schwieg eine Weile. Schließlich schaute er seine Tochter an. »Catherine hat nie etwas getan, was ich ihr nicht verziehen habe.«
»Das hat etwas damit zu tun, wer
du
bist, aber es hat überhaupt nichts damit zu tun, wer
sie
war. Wie ist es möglich, dass sie nicht begriffen hat, was sie für ein Glück hatte? Wie konnte sie das alles einfach wegwerfen?«
Kelly hatte angefangen zu weinen. Cardinal legte ihr einen Arm um die Schultern, und sie lehnte sich an ihn und weinteheiße Tränen in sein Hemd, so wie ihre Mutter es so oft getan hatte.
»Sie hat gelitten«, sagte Cardinal. »Sie hat auf schreckliche Weise gelitten, und niemand konnte ihr helfen. Das darfst du nicht vergessen. Auch wenn sie manchmal sehr anstrengend war, ist sie diejenige, die am meisten gelitten hat. Niemand fand ihre Krankheit so schrecklich wie sie selbst. Und wenn du glaubst, sie sei nicht dankbar dafür gewesen, dass sie geliebt wurde, dann irrst du dich, Kelly. Du glaubst gar nicht, wie oft sie gesagt hat: ›Was hab ich für ein Glück.‹ Wenn wir zum Beispiel einfach nur beim Abendessen saßen oder bei irgendeiner anderen unbedeutenden Gelegenheit, nahm sie meine Hand und sagte: ›Was hab ich für ein Glück.‹ Und über dich hat sie das auch gesagt. Sie war sehr unglücklich darüber, dass sie so viel von der Zeit verpasst hat, in der du aufgewachsen bist. Sie hat alles getan, um gegen die Krankheit anzukämpfen, aber am Ende hat die Krankheit sie besiegt, das ist alles. Ich kenne die Statistiken, Kelly. Sie sind erschreckend. Es hat deine Mutter unglaublich viel Mut – und Loyalität – gekostet, um überhaupt so lange durchzuhalten.«
»O Gott«, sagte Kelly. Ihre Nase war so verstopft, dass sie klang, als wäre sie erkältet. »Ich wünschte, ich hätte nur halb so viel Mitgefühl wie du. Jetzt hab ich dir auch noch dein Hemd versaut.«
»Ich wollte sowieso ein anderes anziehen.«
Er reichte ihr eine Schachtel Kleenex, und sie riss eine ganze Handvoll Papiertaschentücher heraus.
»Ich muss mir das Gesicht waschen«, sagte sie. »Ich seh ja aus wie Medea.«
Cardinal wusste nicht, wer Medea war. Ebenso wenig wusste er, ob das, was er seiner Tochter erzählt hatte, nicht großer Unsinn war. Was weiß ich denn schon?, dachte er. Ich hab überhaupt nichts geahnt. Ich bin noch schlimmer als derBürgermeister. Fast dreißig Jahre verheiratet, und ich bekomme nicht mal mit, dass die Frau, die ich liebe, sich umbringen will.
Diese Frage hatte Cardinal am Tag zuvor dazu bewogen, in die Stadt zu fahren und sich mit Catherines Psychiater zu unterhalten.
Er hatte während Catherines letztem Klinikaufenthalt mehr mals kurz mit Frederick Bell gesprochen. Es waren nur kurze Begegnungen gewesen, bei denen er lediglich den Eindruck gewonnen hatte, dass der Mann intelligent und kompetent war. Aber Catherine war ganz begeistert von ihm gewesen, weil Bell im Gegensatz zu den meisten Psychiatern nicht nur Medikamente verschrieb, sondern viel mit Gesprächstherapie arbeitete. Außerdem hatte er sich auf manische Depression spezialisiert und Bücher über das Thema geschrieben.
Er betrieb seine Praxis in seinem eigenen Haus, einem Ungetüm von einem Altbau in der Randall Street gleich hinter der Kathedrale. Zu den ehemaligen Eigentümern gehörten ein Parlamentsabgeordneter und ein Mann, der es später zu einem Medienzar gebracht hatte. Mit seinen Türmchen und Zinnen, ganz zu schweigen von dem gepflegten Garten und dem schmiedeeisernen Zaun, fiel es in der Gegend völlig aus dem Rahmen.
An der Tür wurde Cardinal von Mrs. Bell begrüßt, einer freundlichen Frau von
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