Eisiges Herz
buchstäblich, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.
»Sie haben dreiundvierzig Minuten, bis die Trauergäste eintreffen«, sagte er. »Möchten Sie jetzt gleich hineingehen?«
Cardinal nickte.
»Sehr wohl. Sie sind im Rosenraum gleich da drüben, die zweite Doppeltür rechts neben der Kommode mit der Standuhr.« Er gab ihnen Hinweise, als hätten sie eine Fahrt von fünfzig Kilometern vor sich, anstatt ein paar Schritte über zehn Meter pastellfarbenen Teppichboden. Mr. Desmond junior begleitete sie sicherheitshalber und öffnete die Doppeltür, deren genaue Koordinaten er bezeichnet hatte.
»Bitte treten Sie ein«, sagte er. »Falls Sie irgendetwas brauchen, stehe ich jederzeit zur Verfügung.«
Cardinal war schon einmal in diesem Raum gewesen und wusste, was ihn erwartete: Wände in einem beruhigenden Altrosa, passende Sofas und Sessel, geschmackvolle Beistelltische mit Lampen, die ein diffuses, gnädiges Licht verbreiteten. Doch als er durch die Tür trat, blieb er wie angewurzelt stehen und stieß einen undefinierbaren Laut aus.
»Was ist?«, fragte Kelly, die hinter ihm stand. »Stimmt was nicht?«
»Ich hatte darum gebeten, den Sarg zu schließen«, brachte Cardinal mühsam hervor. »Ich hatte nicht damit gerechnet, sie noch einmal zu sehen.«
»Äh, nein. Ich auch nicht.«
Sie blieben an der Tür stehen. Der Raum erstreckte sich vor ihnen wie ein altrosafarbener Tunnel, an dessen Ende Catherine, unwirklich schön, auf sie wartete.
Schließlich sagte Kelly: »Soll ich ihn bitten, den Sarg zu schließen?«
Cardinal antwortete nicht. Mit langsamen, zögerlichen Schritten, so als könnte der Boden jeden Augenblick unter ihm nachgeben, durchquerte er den Raum.
Als Cardinals Mutter vor Jahren in diesem Raum aufgebahrt gewesen war, hatte die Gestalt in dem Sarg kaum noch Ähnlichkeit mit ihr gehabt. Die Krankheit, an der sie gestorben war, hatte die fröhliche, willensstarke Frau, die ihn sein Leben lang geliebt hatte, fast völlig zerstört. Und auch sein Vater war ihm bis auf die Brille und die soldatische Haltung vollkommen fremd erschienen.
Doch Catherine war Catherine: die hohe Stirn, die vollen Lippen mit den winzigen Fältchen an den Mundwinkeln, die braunen Locken, die sich um ihre Schultern schmiegten. Wie es den Desmonds gelungen war, sie nach dem fürchterlichen Sturz wieder so herzurichten, wollte Cardinal lieber nicht wissen. Der linke Wangenknochen war zertrümmert gewesen, aber jetzt lag seine Frau vor ihm mit intaktem Gesicht, mit intakten Wangenknochen.
Der Anblick bescherte Cardinal noch eine andere Dimension des Schmerzes. Doch das Wort
Schmerz
reichte nicht aus, um dieses Land des Leids und der Trauer zu beschreiben. Seine schiere Grenzenlosigkeit raubte ihm die Sinne.
Als er wieder zu sich kam, saß er erschöpft und stöhnend auf einem der altrosafarbenen Sofas. Kelly saß neben ihm, in der Hand einen aufgeweichten Klumpen Kleenex.
Jemand sagte etwas zu ihm. Cardinal erhob sich auf unsicheren Beinen und schüttelte Mr. und Mrs. Walcott, Nachbarn von der Madonna Road, die Hand. Die beiden waren pensionierte Lehrer, die ihre meiste Zeit mit Gezänk verbrachten. Heute hatten sie offenbar einen Waffenstillstand vereinbart und präsentierten sich als geschlossene Einheit, wenn auch eher förmlich und zurückhaltend.
»Unser herzliches Beileid«, sagte Mr. Walcott.
Mrs. Walcott trat einen Schritt vor. »Was für eine Tragödie«, sagte sie. »Noch dazu in einer so wunderbaren Jahreszeit.«
»Ja«, sagte Cardinal. »Catherine hat den Herbst immer am meisten geliebt.«
»Haben Sie das Essen bekommen?«
Cardinal schaute Kelly an, die nickte.
»Ja, danke. Das war sehr freundlich von Ihnen.«
»Sie brauchen es nur aufzuwärmen. Zwanzig Minuten bei mittlerer Hitze wird reichen.«
Weitere Trauergäste trafen ein. Einer nach dem anderen traten sie an den Sarg, einige knieten davor nieder und bekreuzigten sich. Es kamen Dozenten von der Northern University und vom College, wo Catherine unterrichtet hatte. Ehemalige Studenten. Der weißhaarige Mr. Fisk, der jahrzehntelang Fisk’s Camera Shop geführt hatte, bis er dank der tödlichen Preispolitik von Wal-Mart ebenso wie die meisten anderen Läden auf der Main Street pleite gegangen war.
»Das ist ein großartiges Foto von Catherine mit den Kameras«, sagte Mr. Fisk. »Genauso ist sie immer in den Laden gekommen. Immer in diesem Anorak oder dieser Anglerweste. Erinnern Sie sich an diese Weste?« Mr. Fisk überspielte seine
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