Eisiges Herz
wachrufen.«
»Ms. Greene, ich habe in den vergangenen zehn Jahren mit zahlreichen Vergewaltigungsopfern gearbeitet. Fast alle – mit wenigen Ausnahmen – haben es als positive Erfahrung empfunden, gegen den Mann auszusagen, der sie missbraucht hatte. Natürlich war es ihnen peinlich. Und es hat sie gequält. Aber längst nicht so sehr wie wenn sie geschwiegen hätten. Und wenn sie mit einem guten Therapeuten zusammenarbeiten, kann die Erfahrung letztlich sogar äußerst heilsam sein.«
»Melanie macht zur Zeit eine Therapie. Bei Dr. Bell. Er soll sehr gut sein.«
Delorme sagte nichts dazu und bog schweigend in die Redpath Street ein. Nach zwei, drei Blocks zeigte Ms. Greene auf ein rechteckiges Backsteinhaus mit einem Vorgarten, wo ein von innen elektrisch beleuchteter Gartenzwerg inmitten von Herbstlaub stand.
»Da ist es. Melanie wohnt gern hier, weil es nur einen halben Block von der Algonquin Street entfernt ist und der Bus gleich an der Ecke hält. Sie braucht nur zehn Minuten bis zum College, und das ist ein Glück, denn einige ihrer Kurse fangen erst um acht Uhr an. Acht Uhr abends, können Sie sich das vorstellen? Ich hoffe, sie ist zu Hause. Sie ist bestimmt zu Hause.
Es ist nur eine Pension«, fuhr sie fort, während sie auf die Haustür zugingen. »Aber Mrs. Kemper, die Vermieterin, ist anscheinend sehr nett. Sie kümmert sich um ihre Mieter, aber sie mischt sich nicht in ihre Angelegenheiten ein.«
Frost lag in der Luft, ein leichter Wind trieb das Laub über den Weg, und es roch nach Schnee.
»Melanie wohnt im ersten Stock links. Ah, sie hat Licht an, wahrscheinlich ist sie nach Hause gekommen, während wir hierher unterwegs waren.«
Sie betraten die Diele von der Größe eines Wandschranks, und Ms. Greene drückte auf eine Klingel. »Das sind ihre Stiefel, die mit dem Pelzbesatz. Mrs. Kemper besteht darauf, dass sie alle ihre Schuhe in der Diele ausziehen.«
Sie warteten ein, zwei Minuten lang, dann klingelte Ms. Greene noch einmal.
Dann waren auf der Treppe Schritte zu hören. Auf Ms. Greenes Gesicht breitete sich ein erleichtertes Lächeln aus, das allerdings leicht verrutschte, als die Tür geöffnet wurde.
Eine junge Frau in einem Kapuzensweatshirt mit demLogo der Northern University und mit drei Ringen in der Nase kam heraus. Sie stieß einen leisen Überraschungsschrei aus. Bevor die Tür wieder zufiel, hielt Ms. Greene sie am Knauf fest und trat in den Treppenflur.
»Hallo«, sagte sie. »Ashley, nicht wahr? Ich glaube, wir sind uns mal vorgestellt worden. Ich bin Melanies Mutter.«
»Ach ja. Hi.«
»Ich glaube, Melanie ist gerade nach Hause gekommen. Wir möchten sie besuchen.«
»Soweit ich weiß, ist Melanie schon den ganzen Abend zu Hause«, sagte die junge Frau, murmelte ein flüchtiges »Tschüs« und verschwand auf die Straße hinaus.
Delorme folgte Ms. Greene die Treppe hinauf. Das Haus war in wesentlich besserem Zustand als die Absteigen, in denen sie selbst als Studentin gewohnt hatte: Teppichboden im Treppenhaus, hübsche Tapete und vor allem sauber. Delorme musste an die Kellerwohnung denken, in der sie während ihres Studiums in Ottawa gehaust hatte, an die verdreckte Treppe und den modrigen Geruch.
Ms. Greene klopfte an eine schwere, weiße Tür mit der Nummer vier.
Drinnen ging gerade ein Rockstück zu Ende, dann ertönte die Stimme des Sprechers von EZ Rock, der für einen örtlichen Toyota-Händler warb.
»Sie muss zu Hause sein«, sagte Ms. Greene. »Ihre Stiefel standen doch unten. Und es passt überhaupt nicht zu ihr, das Licht und das Radio anzulassen, wenn sie weggeht.«
Delorme klopfte kräftig an die Tür. »Sie könnte in der Dusche sein.«
»Die Dusche ist gleich hier.« Ms. Greene zeigte auf eine offene Tür. »Ein Gemeinschaftsbad. Allmählich fange ich an, mir Sorgen zu machen.«
»Melanie?« Delorme schlug mit der flachen Hand gegendie Tür. Eine Tür am anderen Ende des Flurs wurde geöffnet, eine blasse junge Frau warf ihnen einen wütenden Blick zu, dann machte sie ihre Tür wieder zu.
Ms. Greene legte ihre Wange an das Holz. »Melanie, wenn du da drin bist, bitte mach auf. Wir müssen ja nicht reinkommen, wenn du es nicht willst. Wenn du deine Ruhe brauchst, ist das vollkommen in Ordnung, aber sag uns einfach, ob es dir gut geht.«
»Gehen Sie runter und holen Sie den Schlüssel«, befahl Delorme.
Panik in Ms. Greenes Augen.
»Schnell, beeilen Sie sich.«
Delorme rief weiter durch die Tür nach Melanie. Von oben schrie eine wütende
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