Eisiges Herz
über zwei Jahren übernommen hatte, aber alle in der Stadt nannten es immer noch so.
Cardinal hatte etwa zehn Schritte von Zimmer 12 entfernt geparkt. Szelagy saß auf der anderen Seite des Parkplatzes inseinem Wagen, doch die beiden Männer nahmen keine Notiz voneinander. Cardinal öffnete sein Fenster einen Spalt breit, um zu verhindern, dass die Scheiben beschlugen. Selbst hier, mitten in der Stadt, lag der Geruch nach Herbstlaub in der Luft und der vertraute Duft nach Kaminfeuer.
»Wollen Sie wirklich behaupten, sie ist da drin?«, fragte der Bürgermeister. »Meine Frau – in diesem Zimmer?«
Er muss es doch wissen, dachte Cardinal. Wie ist es möglich, dass seine Frau tagelang fortbleibt und sich in Motels einmietet, ohne dass er davon weiß?
»Das glaub ich einfach nicht«, sagte Feckworth. »Nicht in so einer billigen Absteige.« Doch er klang schon weniger überzeugt, so als hätte der Anblick der Zimmertür ihn in seinem Glauben erschüttert. »Cynthia ist absolut loyal«, sagte er. »Ein Charakterzug, auf den sie stolz ist.«
In Wirklichkeit hüpfte Cynthia Feckworth mindestens seit vier Jahren von einem Bett in Algonquin Bay ins nächste, und der Bürgermeister war der Einzige, der nichts davon wusste. Und woher nehme ich das Recht, ihm die Augen zu öffnen?, dachte Cardinal. Wieso maße ich mir an, diesen Mann aus seiner seligen Ahnungslosigkeit zu reißen?
»Es kann nicht sein, dass sie mit einem anderen schläft. Das wäre … wenn sie mit einem anderen Mann … dann ist Schluss. Darauf können Sie sich verlassen. O Gott, wenn es wirklich stimmt, dass sie …« Feckworth verbarg stöhnend das Gesicht in den Händen.
Wie aufs Stichwort ging die Tür von Nummer 12 auf, und ein Mann trat heraus. Er war durchgestylt, als wäre er einem Katalog für Herrenmode entsprungen: Nutzen Sie die Sonderangebote für unsere modischen Windjacken.
»Das ist ja Reg Wilcox«, sagte der Bürgermeister. »Stadtreinigung. Was macht der denn hier?«
Entspannt und zufrieden wie ein Mann nach einem gutenFick schlenderte Wilcox zu seinem Ford Explorer. Dann setzte er rückwärts aus der Parklücke und fuhr davon.
»Tja, jedenfalls war Cynthia nicht in dem Zimmer. Das ist ja schon etwas«, bemerkte Feckworth. »Vielleicht sollte ich einfach nach Hause fahren und hoffen, dass sich alles zum Guten wendet.«
Die Tür von Nummer 12 öffnete sich erneut, und eine attraktive Frau sah sich kurz um, bevor sie heraustrat und die Tür hinter sich zuzog.
Sie knöpfte ihren Mantel gegen die kühle Nachtluft zu und überquerte den Parkplatz.
Der Bürgermeister sprang aus dem Wagen und stellte sich ihr in den Weg. Cardinal kurbelte sein Fenster hoch, er hatte keine Lust, sich das anzuhören. In dem Augenblick klingelte sein Handy.
»Cardinal, warum zum Teufel gehen Sie nicht an Ihr Funkgerät?«
»Ich sitze in meinem Privatfahrzeug, Sergeant Flower. Aber es lohnt sich nicht, es Ihnen zu erklären.«
»Also gut, hören Sie zu. Ein Anrufer hat hinter dem Gateway-Wohnblock eine Leiche gefunden. Kennen Sie das neue Gebäude?«
»Das Gateway? An der Umgehungsstraße? Ich wusste gar nicht, dass es schon fertig ist. Sind Sie sicher, dass es sich nicht um einen Betrunkenen handelt, der seinen Rausch ausschläft?«
»Ganz sicher. Die Kollegen aus dem Streifenwagen am Tatort haben es soeben bestätigt.«
»Okay. Ich bin ganz in der Nähe.«
Der Bürgermeister und seine Frau stritten sich.
Cynthia Feckworth stand mit vor der Brust verschränkten Armen da, den Kopf gesenkt. Ihr Mann hatte die Arme ausgebreitet, die typische Haltung des flehenden Gatten. In derTür des Motelbüros stand ein Angestellter und beobachtete die Szene.
Der Bürgermeister bekam nicht einmal mit, dass Cardinal wegfuhr.
Der Gateway-Turm stand am östlichen Stadtrand, eins der wenigen Hochhäuser in einem Gebiet, wo Einkaufszentren wie Pilze aus dem Boden schossen. Im Erdgeschoss des Gebäudes befand sich ebenfalls ein kleines Einkaufszentrum mit einer Reinigung, einem Supermarkt und einem großen Computerreparaturladen namens CompuClinic, der von der Main Street hierhergezogen war. Die Geschäfte waren bereits seit einiger Zeit geöffnet, aber viele der Wohnungen in dem Turm waren noch unbewohnt. Eine kreuzungsfreie Straße wurde angelegt, um die Verkehrsanbindung des aufstrebenden Viertels zu verbessern – wenn man es denn als solches bezeichnen konnte. Cardinal musste im Slalom durch eine Ansammlung von orangefarbenen Kegeln fahren und dann noch
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