Eisiges Herz
gut aus, er war unterhaltsam und dazu Junggeselle, und solche Männer waren in einem Kaff wie Algonquin Bay nicht leicht zu finden.
Als sie an den Tisch zurückkehrte, war sie so bleich, dass Shane sie fragte, ob sie sich hinlegen müsse. Detective Sergeant Chouinard hatte ihr soeben mitgeteilt, dass man eine Leiche gefunden habe, dass es sich bei der Toten um John Cardinals Frau handele und Cardinal selbst sich am Tatort befinde. Ein Streifenpolizist hatte Chouinard zu Hause angerufen, der wiederum Delorme benachrichtigt hatte.
»Holen Sie ihn da weg, Lise«, hatte er gesagt. »Was auch immer jetzt in ihm vorgehen mag, Cardinal ist seit dreißig Jahren Polizist. Er weiß ebenso gut wie Sie und ich, dass er,bis feststeht, dass es sich nicht um Mord handelt, der Verdächtige Nummer eins ist.«
»Hören Sie«, sagte Delorme, »Sie wissen genau, dass Cardinal seiner Frau immer zur Seite gestanden hat trotz …«
»Trotz einer Menge Scheiß. Ja, das weiß ich. Aber ich weiß auch, dass er womöglich endlich die Schnauze voll hatte. Es ist durchaus denkbar, dass irgendein kleiner Tropfen das Fass schließlich zum Überlaufen gebracht hat. Also setzen Sie gefälligst Ihren Arsch in Bewegung, fahren Sie zum Tatort und gehen Sie vom Schlimmsten aus. Solange nichts anderes erwiesen ist, haben wir es mit einem Mord zu tun.«
Und so war Delorme nicht wütend, als sie durch die Stadt fuhr, sondern traurig und bekümmert. Zwar war sie Cardinals Frau einige Male begegnet, aber sie hatte sie nie wirklich kennengelernt. Natürlich wusste sie, was alle im Department wussten: dass Catherine alle paar Jahre einen manischen Schub erlitt und in die Psychiatrie eingewiesen werden musste. Und jedes Mal, wenn Delorme Catherine Cardinal erlebt hatte, hatte sie sich gefragt, wie das möglich war.
Denn Catherine Cardinal gehörte zu den wenigen Frauen, die, zumindest, wenn es ihr gut ging, die Bezeichnung »strahlende Schönheit« verdienten. Die Worte »manisch« und »depressiv« – ganz zu schweigen von »schizophren« oder »psychotisch« – beschworen Bilder von nervlich zerrütteten, wenn nicht gar halb wahnsinnigen Menschen herauf. Aber Catherine hatte Sanftmütigkeit, Intelligenz und Klugheit ausgestrahlt.
Delorme, die bereits länger, als ihr lieb war, als Single lebte, langweilte sich meist in Gesellschaft von Ehepaaren. Bei Verheirateten vermisste sie im Allgemeinen das gewisse Etwas derjenigen, die immer noch auf der Jagd waren. Außerdem nervten sie einen mit der Überzeugung, dass Alleinstehenden etwas fehlte. Das Schlimmste jedoch war, dass viele Ehepartnereinander anscheinend nicht einmal leiden konnten und derart grob miteinander umgingen, wie sie es einem Fremden gegenüber niemals wagen würden. Aber zwischen Cardinal und seiner Frau, die schon Gott weiß wie lange miteinander verheiratet waren, schien eine tiefe Verbundenheit zu bestehen. Cardinal sprach fast jeden Tag von seiner Frau, es sei denn, sie befand sich in der Klinik, und auch dann hatte Delorme nie das Gefühl gehabt, dass er aus Scham schwieg, sondern aus Loyalität. Ständig erzählte er Delorme von Catherines neuesten Fotos, wie sie einem ehemaligen Studenten zu einem Job verholfen hatte, dass sie einen Preis gewonnen hatte oder von irgendwelchen witzigen Bemerkungen, die sie gemacht hatte.
Dennoch hatte Catherine, so erinnerte sich Delorme, etwas Dominantes, ja beinahe etwas Herrisches, selbst wenn man von ihrer psychischen Krankheit wusste. Womöglich war es sogar eine Auswirkung dieser Krankheit, die Aura eines Menschen, der in die Tiefen des Wahnsinns hinabgestiegen und zurückgekehrt war, um davon zu berichten. Nur diesmal war sie nicht zurückgekommen.
Und vielleicht war es sogar besser so für Cardinal, dachte Delorme. Vielleicht war es nicht das Schlechteste für ihn, von dieser Last befreit zu sein. Delorme hatte erlebt, wie sehr es Cardinal jedes Mal mitgenommen hatte, wenn seine Frau wieder in die Psychiatrie eingewiesen worden war, und mehrmals hatte sie zu ihrer eigenen Verwunderung festgestellt, dass sie wütend auf die Frau war, die Cardinal das Leben zur Qual machte.
Lise Delorme, fluchte sie innerlich, als sie vor dem Absperrband hielt, manchmal bist du wirklich ein komplettes, erbarmungsloses Miststück.
Falls Chouinard gehofft hatte, durch die sofortige Herbeizitierung Delormes verhindern zu können, dass der Hauptverdächtigeden Tatort vermasselte, hatte er sich getäuscht. Als Delorme aus ihrem Wagen stieg, sah sie, wie
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