Eiskalt Ist Die Zaertlichkeit
aus der würde er keine Antworten mehr herausbekommen. Sie war etwa ein halbes Jahr nach Mary Graces Verschwinden ums Leben gekommen. Er schürzte die Lippen. Jetzt wünschte er, dass er sich nicht für eine ganz bestimmte Kurve in den Bergen entschieden hätte, um Schwester Scheinheilig von der Straße zu drängen. Er hätte einen sanfteren Abhang wählen sollen, sodass der Sturz nicht tödlich endete, der alten Hexe aber doch einen solchen Schrecken versetzte, dass sie der Polizei keine weiteren Fotos gab. Die alte Schwester war so fest davon überzeugt gewesen, dass er es getan, dass er seine Frau und seinen Sohn ermordet hatte. Das lästige Weibsstück hatte Fotos von Mary Grace während ihres Krankenhausaufenthalts aufgenommen und an die Ermittler weitergegeben, die mit der Entführung seines Sohns befasst gewesen waren. Besonders ein Detective, Gabe Farrell, mit dem sie ständig redete, betrachtete ihn jedes Mal, wenn ein neues Foto auftauchte, wie ein Stück Hundescheiße, das unter seinem Schuh klebte. Diese Schwester hatte er außer Gefecht setzen müssen.
Seine Gedanken schweiften zu der zerbrochenen und wieder zusammengeklebten Skulptur im Beweismittelsafe von Sevier County. Die Schwesternhelferin hatte Mary Grace diese Skulptur gegeben. Vielleicht hatte sie ihr noch viel mehr gegeben.
Er musste unbedingt in Erfahrung bringen, wo diese Schwesternhelferin jetzt wohnte.
Er logte sich aus und griff zum Telefonhörer, um im Krankenhaus anzurufen, doch dann hielt er den Hörer in der Hand, ohne zu wählen, bis das nervtötende Freizeichen in seinen Ohren zu summen begann. Er konnte nicht einfach anrufen und fragen. Weil, dachte er, und sein Kiefer verkrampfte, weil in diesem Moment ein Special Agent vom SBI in Ross’ Büro hockte. Er knallte den Hörer auf. Mr Staatstreu, wie hieß der Typ noch gleich? Thatcher, genau. Ross würde dafür sorgen, dass Agent Thatcher sich auf ihn als Zielscheibe seiner Ermittlungen einschoss.
Winters unterdrückte den Drang, irgendeinen Gegenstand an die Wand zu schleudern. Er. Ein Verdächtiger.
Schon wieder.
Das erste Mal war schlimm genug gewesen. Aber dass es jetzt noch einmal geschah, war beinahe nicht zu glauben. Doch Ben Jolley hatte ihn vor einer halben Stunde auf seinem Handy angerufen und es ihm verraten. Es zahlte sich aus, Kumpel auf dem Revier zu haben. So blieb er während seines Urlaubs wenigstens informiert. Er hatte keine Angst, dass man gegen ihn Anklage erheben würde, denn schließlich hatte er nichts Böses getan.
Winters blickte erst auf das Telefon, dann auf den Computer. Er konnte nicht einfach im Krankenhaus nach dieser Schwesternhelferin fragen. Thatcher würde schon bald davon erfahren … Zwar brauchte er nicht zu befürchten, dass sie etwas fanden, was sie gegen ihn verwenden konnten, aber sie würden ihn in unbezahlten Urlaub schicken, während sie sich am Arsch kratzten und weiter gegen ihn ermittelten.
Wie konnte er sich Zugang zu den Personalakten des Krankenhauses verschaffen? Er kannte sich nicht gut genug mit Computern aus, um es auf eigene Faust zu versuchen.
Er musste einen Fachmann finden.
Asheville, North Carolina
Dienstag, 6. März, 14:25 Uhr
»Nun?« Ross stand in der Tür des Konferenzzimmers, das man Steven als Büro zugewiesen hatte.
Steven stieß sich mit seinem Stuhl vom Schreibtisch ab und stand auf. Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken und streckte sich, um die Muskeln zu dehnen, die zu lange steif geblieben waren. »Ich muss mich über mangelnde Gastfreundschaft beklagen, Lieutenant Ross«, sagte er mit einem müden Lächeln. »Hier drinnen herrschen mindestens fünfundsechzig Grad.«
Ross lehnte sich an den Türrahmen. »Ja, es wird ein bisschen warm hier«, gab sie zu. »Besonders wenn die Sonne vor diesem kleinen Fenster steht.«
Steven lockerte seine Krawatte um einen weiteren Zentimeter und öffnete den obersten Kragenknopf. »Ein bisschen warm? Wie heiß wird es in diesem Zimmer dann wohl im August? Schon gut. Ich will es gar nicht wissen.«
»Das war unsere Verhörzelle.« Sie lächelte, und Steven war völlig verdutzt über die Veränderung, die in ihrem Gesicht vor sich ging. Wenn sie lächelte, war Ross eine attraktive Frau. »Doch die Regierung verurteilte die Methode als grausam und unzumutbar für Personen, die noch nie verhört wurden. Vor ein paar Jahren haben sie uns eine Verhörzelle nach allen Regeln der Kunst gebaut, und jetzt ist dieser Raum hier lieben Gästen vorbehalten.« Sie wurde
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