Eiskalt Ist Die Zaertlichkeit
wieder sachlich und wies auf den dünnen Aktenstapel. »Ich sagte ja, dass es nicht viel ist, aber das ist nun mal alles, was das Archiv hergibt. Die Zeugenaussagen.« Ihr Tonfall war nüchtern, als ihr Blick auf die beiden Fotos fiel, die an einen der braunen Umschläge geheftet waren. »Die Fotos.«
Steven betrachtete mit finsterer Miene erst das eine, dann das andere Foto.
Das erste zeigte eine blutjunge Mary Grace Winters, vielleicht achtzehn Jahre alt, die einen lachenden, zweijährigen Jungen mit blondem Haar und den ersten beiden Zähnchen auf der Hüfte trug. Ihre Lippen waren in der grotesken Parodie eines Lächelns verzogen, ein Lächeln, das nicht annähernd ihre bekümmerten Augen erreichte. Auf dem zweiten Foto war Mary Grace ein paar Jahre älter und lag unmittelbar nach ihrem Treppensturz im Krankenhaus. Eine Gesichtshälfte war fast bis zur Unkenntlichkeit geschwollen. Ihr blondes Haar war von einer wohlmeinenden Krankenschwester abgeschnitten worden, um die Behandlung während ihres dreimonatigen Aufenthalts in der Klinik zu erleichtern. Um den dicken Verband herum war ihr Haar bis auf die Kopfhaut abrasiert, ansonsten war es bis auf etwa einen halben Zentimeter geschoren.
Auf privater Ebene drehte sich ihm beim Anblick der Fotos der Magen um. Auf beruflicher erfüllten sie die Kriterien für einen Verdacht auf Misshandlung durch den Ehemann. Unglücklicherweise lag nicht die Spur eines Hinweises darauf vor, dass Winters jemals der Misshandlung seiner Frau bezichtigt wurde. Doch genau diese Tatsache ließ Steven keine Ruhe. Sorgfältig schob er die Fotos in eine Aktenmappe, blickte auf und sah, dass Ross ihn mit besorgter Miene musterte.
Steven bewegte die Schultern, um sie zu lockern und gleichzeitig seiner Ratlosigkeit Ausdruck zu geben. »Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich erwartet, dass wenigstens ein Mensch in diesem Revier einen Verdacht gegen ihn geäußert hätte. Immerhin wurden die Frau und der kleine Sohn eines Polizisten entführt …«
»Damals sind die Ermittler zu dem Schluss gekommen, dass sie mit dem Jungen weggelaufen ist«, sagte Ross.
Aber nicht alle sind zu diesem Schluss gekommen,
dachte Steven.
Lennie Farrells Vater zum Beispiel nicht.
»Ja, verstehe. Man hat angenommen, dass Mary Grace Winters weggelaufen ist, weil ihr Mann eine Affäre mit der Nachbarin hatte.« Er sah, wie sich Lieutenant Ross’ Gesicht verschloss. »Glauben Sie das auch, Lieutenant?«
Ross nickte und verzog grübelnd den Mund. »Eine plausible Erklärung war es auf jeden Fall. Rob erfreut sich seit jeher großer Beliebtheit bei den Damen. Aber was mir immer zu denken gab, war der Junge. Rob Winters hat seinen Sohn anscheinend abgöttisch geliebt, hat jahrelang um den kleinen Robbie getrauert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dem Jungen etwas angetan hat. Er hat nie geglaubt, dass seine Frau weggelaufen sein könnte, und war von Anfang an davon überzeugt, dass irgendein Verbrecher beide aus Rache gekidnappt hat.« Sie zuckte mit den Schultern. »Auch das ist nicht auszuschließen. Winters hat im Lauf der Jahre zahlreiche Verhaftungen vorgenommen. Ehrlich, Thatcher, ich weiß nicht, was ich glauben soll. Deshalb wollte ich Sie hinzuziehen.«
Steven senkte den Blick wieder auf die Fotos. »Ich würde gern so bald wie möglich mit Winters sprechen.«
»Ich kann Ihnen seine Adresse geben. Er ist heute nicht hier, weil er Urlaub genommen hat«, fügte sie hinzu und beantwortete damit seine nächste Frage, bevor Steven sie aussprechen konnte.
»Gut. Und wie steht’s mit den Beamten, die vor sieben Jahren die Ermittlungen ausgeführt haben?«
»Mit Farrell können Sie sprechen, mit York allerdings nicht.«
Steven rückte seine Krawatte zurecht. »Warum nicht mit York?«
»Er ist letztes Jahr gestorben.«
Steven furchte die Stirn. »Im Dienst?«
Sie schüttelte den Kopf. »Herzinfarkt. Der Mann war einfach zu versessen auf Brathähnchen und so weiter.«
Steven lachte leise. »Dann ist er also glücklich gestorben.«
Sie lächelte wieder. »Glücklich wie eine frittierte Muschel. Farrell wohnt oben in den Bergen, in der Nähe von Boone. Morgen früh können Sie ihn besuchen. Heute ist er mit einer Truppe Pfadfinder angeln gegangen«, sagte sie, während er seine Akten zusammenkramte. »Sie werden Gabe Farrell mögen. Er ist ein feiner Kerl.«
»Wie ich höre, macht seine Frau einen großartigen Süßkartoffelauflauf.«
»Der ist eine Sünde wert.«
Chicago
Dienstag, 6. März,
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